Leben hinterlassen Spuren, bisweilen nachhaltige, oft kümmerliche, aber eben immer Spuren. Manche Biografien lesen sich, als sei die Geschichte vorbestimmt, manche, als habe nur der Zufall Regie geführt. Wenn sich das Bild verfestigt, findet alles andere in den Schubladen unserer Köpfe keinen Platz mehr. Journalisten sind nicht ganz unwesentlich an der Festlegung beteiligt, wie Leben nach dem Ableben im Bewusstsein der Lebenden weiterleben. Litera scripta manet, wie der gebildete Schwabe sagt. Von vielen bleibt das irdische Wirken in nachhaltiger Erinnerung. Die meisten aber verblassen, wenn die Geschichte andere Themen auf die Tagesordnung setzt.
Das Leben ist eben ungerecht – und am Ende empfindet man auch das als ungerecht, was zum Leben gehört: der Tod. Rücksicht ist für den Tod keine Denkkategorie, Angehörige und Nahestehende sind ihm gleichgültig, und weltliche Terminkalender ignoriert er völlig.
Der Journalist Martin Hohnecker ist gestorben. Sein Tod kam nicht unerwartet, er war schon längere Zeit krank. Aber wenn das unerhörte Ereignis eintritt, ist man immer erschrocken und seltsam berührt, auch wenn man weiß, dass schwer heilbare körperliche Leiden irgendwann die Überlebenskräfte so sehr angreifen, dass sie versiegen. Es ist nicht so sehr der Augenblick des Todes, der Nahestehende fassungslos macht. Es ist der Moment, in dem die Nachricht des Todes von einem Besitz ergreift.
Stücke schreiben, die federleicht sind, die den Eindruck erwecken, als ob der Schreiber den meisterhaften Text mit einem Gedankenblitz locker aus der flinken Feder hingezaubert hat, ist schwer. In aller Regel quälen sich die Schreiber, fangen nochmals an, wenn die Sprache nicht genug gefällig ist, wenn sie den selbst gestellten Ansprüchen nicht genügt. Schwerer zu schreiben sind nur Nachrufe. Und noch schwerer zu schreiben sind Nachrufe auf Journalisten wie Martin Hohnecker, auf Kollegen also, die mit der Sprache so sicher und virtuos umgehen konnten wie Zirkusartisten mit ihrem Trapez. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen.
Martin Hohnecker betrat nicht mit einem Paukenschlag die Bühne der Welt. Er ist im Kriegsbeginnjahr 1939 geboren, als andere ihre widerlichen Donnerschläge vorbereiteten. Und er ist in Korntal geboren, im pietistischen Korntal, dort, wo man nach seinen Worten noch immer auf das Kommen des Herrn wartet. Auf Zeitpunkt und Ort der Geburt hat man keinen Einfluss. Aber Korntal, das prägt. So oder so. Weltlicher Frohsinn, Luxus und Unmäßigkeit sind im Pietismus nicht nur tabu, sie werden schroff abgelehnt. Fleiß, Sparsamkeit, Pflichtbewusstsein und Gottgefälligkeit dagegen sind die ungeschriebenen Gebote.
Er hat sogar dem Trollinger einen Platz verschafft
Man ist entweder ein Hundertprozentiger, oder man hinterfragt. Und Hohnecker muss irgendwann in seinem Leben hinterfragt haben, als er den angeborenen Pietismus – jedenfalls für sich – vom Kopf auf die Beine stellte, den Gegenentwurf lebte: Er wurde Journalist, Feinschmecker, schrieb lesenswerte und liebenswürdige Hommagen an große Köche und wurde Weinkenner, ein vorzüglicher noch dazu. Er hat sogar dem Trollinger – ein großes Kunststück – wieder einen Platz in der Genießerszene verschafft. Vor allem aber: Er wurde Journalist – und er war Journalist mit Leib und Seele. Mit einer kräftigen Sprache und einem hintersinnigen Humor. Ein Leuchtturm in den oft seltsamen Verirrungen der schreibenden Zunft.
Hohnecker hatte etwas, was heute im Journalismus selten vorzufinden ist: Er war neugierig, mutig und streitlustig. Er ging nicht irgendwohin, um zurückzukommen und die Klischees, die alle schon im Kopf hatten, zu reproduzieren. Er konnte sich überraschen lassen und dann auch seine Meinung ändern. Er hatte Rückgrat – und vor allem eine Haltung. Und Haltung ist im Journalismus ohnehin das Wichtigste. Haltung heißt, sich bei der schöpferischen Schreibarbeit immer zu fragen: Warum schreibe ich das? Was will ich warum mitteilen? Wie wähle ich meine Worte? Ohne Haltung gibt es keinen guten Journalismus, ohne Meinung sehr wohl. Hohnecker war sich dessen immer bewusst. Eine starke Meinung hatte er trotzdem.
Hohnecker war 35 Jahre bei der "Stuttgarter Zeitung". Was heißt war? Er hat die Zeitung geprägt, hat ihr seinen Stempel aufgedrückt. Seine samstäglichen <link file:3083 _blank download>Glossen waren journalistische Leckerbissen, unerreicht in ihrem Witz und Tiefsinn und sprachlich noch dazu intellektuelle Delikatessen für den Leser. Er kannte das Handwerk aus dem Effeff, war Chef der Kreisredaktion, Korrespondent in Ludwigsburg, Chef vom Dienst, Lokalchef und stellvertretender Chefredakteur. Und in Stuttgart war er eine Stimme, auf die gehört wurde. Eine gewaltige Stimme. Zuweilen eine gefürchtete.
Er hat auch geharnischte Briefe an die Verlagsleitung geschrieben
Dass er sich mit den Großen und Mächtigen auf der Lokalebene mit dem Florett gestritten hatte, verschaffte ihm nicht unbedingt Freunde. Das gehört zum Geschäft, solche Streitereien fechten auch weniger mutige Journalisten aus. Aber er hat sich ohne jede Scheu auch diejenigen vorgeknöpft, die gewöhnlich nicht im Streit-Fokus von Journalisten liegen: Verleger und Chefredakteure. Wenn ihm etwas in der Zeitung nicht passte, dann sagte er es deutlich und vernehmbar, schrieb geharnischte Briefe an die Verlagsleitung, wenn das Spardiktat wieder nur auf dem Rücken der Journalisten ausgetragen werden sollte. Nicht um sich bei den Kollegen zu profilieren. Nein, um denen eine Stimme zu geben, die es nicht wagen durften oder glaubten, es nicht wagen zu dürfen. Dass er nach seinem Ausscheiden bei der "Stuttgarter Zeitung" im April 2004 mit weiteren Kollegen den Diskutierzirkel "Freunde der Zeitung" ins Leben rief, Referenten zu Wort kommen ließ, die gewöhnlich nicht auf dem Radarschirm von Journalisten auftauchen, und über Zukunftsperspektiven der bedrohten Zunft der Qualitätsjournalisten stritt, zeigt seine Haltung: die Verkörperung der guten Zeitung als gesellschaftlich notwendiges Projekt.
Ich hatte das große Glück, mit Martin Hohnecker bei der "Stuttgarter Zeitung" zusammen arbeiten zu dürfen. Ich habe von ihm gelernt, was viele andere auch von ihm lernten. Aber ich habe von ihm etwas mitbekommen, von dem nur er fähig war, es zu vermitteln: dass man in Siegen nie den Charakter, in Niederlagen nie den Mut verlieren darf. Er war da, wann immer ich seinen Rat brauchte. Und als ich ihn bat, mir bei einem meiner Bücher auch mit Tat zur Seite zu stehen, war er ganz selbstverständlich da. Wir haben über den Manuskripten gebrütet, haben dabei unzählige Flaschen Lemberger und Trollinger als Seelendoping geschlotzt – und er hat dort eingegriffen, wo meine Kunst an ihre Grenzen gestoßen ist. Ohne ihn, das wandelnde Schwaben-Lexikon, wäre das letzte Buch ein Fragment geblieben.
Martin Hohnecker wurde 73 Jahre alt. Man sagt es immer so leicht, aber es stimmt halt: Er hat uns viel zu früh verlassen. Im Augenblick des Eintreffens der Todesnachricht können wir nur ahnen, was wir verloren haben.
Aber eines weiß man jetzt schon sicher: Einer der ganz wenigen Leuchttürme im Journalismus hat sein Licht ausgeknipst. Für immer.
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