Fast 20 Monate hat Verena Becker geschwiegen, versteckt hinter ihrer Sonnenbrille. Nun hat die Angeklagte doch geredet, dabei wenig gesagt – und sich für vollkommen unschuldig erklärt. Verhält sich so jemand, der unschuldig ist? Und vor allem: welche Funktion hatte dieser Auftritt vor der internationalen Presse tatsächlich?
Am 30. September 2010 hatte der Prozess gegen Verena Becker wegen des Attentates vom 7. April 1977 auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster begonnen. Die Angeklagte hatte bisher geschwiegen, 88 Sitzungstage lang. Jetzt, am 14. Mai 2012, hat sie ihr Schweigen gebrochen, auf großer Bühne. Der Andrang des Publikums war nur am ersten Prozesstag größer. Die Erklärung Verena Beckers dauerte 20 Minuten und man kann sie in einem Satz zusammenfassen: "In allen Punkten unschuldig."
Die Bundesanwaltschaft wirft Becker eher leichtere Taten vor: Sie soll vor dem Anschlag den Tatort ausgespäht, hinterher Bekennerschreiben verschickt sowie in besonderer Weise die RAF-Gruppe zu dem Mord aufgehetzt haben. Becker, so die Anklage, soll nur "Mittäterin" gewesen sein und nicht zum Mordkommando gehört haben. Bei der Festnahme von Verena Becker und Günter Sonnenberg am 3. Mai 1977 in Singen war allerdings die Tatwaffe sowie ein Schraubenzieher aus dem Bordwerkzeug des Tatmotorrads gefunden worden. Das Gericht ging in seinem Beweisaufnahmeprogramm jedenfalls über die drei Anklagepunkte der Bundesanwaltschaft hinaus. Es wollte herausfinden, wer die Täter auf dem Motorrad waren.
Der Verfahren sprengt die von RAF-Prozessen bekannten Rollen vor allem aber aus folgendem Grund: Verena Becker war eine Informantin des Verfassungsschutzes. Auf der Anklagebank sitzt nicht nur eine Terroristin, sondern auch der Staat.
Vor diesem Hintergrund nahm Becker nun am 14. Mai Stellung: Wer Generalbundesanwalt Buback ermordete, könne sie nicht sagen. Am 7. April 1977, dem Tattag, sei sie im Nahen Osten gewesen. Dorthin sei sie im März 1977 geflogen. Die Rückreise habe sie am 8. April 1977 angetreten und dabei einen gefälschten zypriotischen Pass benutzt. Bei der Zwischenlandung am selben Tag in Rom habe sie von dem Karlsruher Attentat erfahren. Dann sei sie weiter nach Deutschland gereist und mit RAF-Mitgliedern zusammengetroffen. Dort sei das Bekennerschreiben vorgelegen, das versandt werden sollte. Dass sie mitgeholfen habe, die Kuverts zuzukleben, sei nicht geplant gewesen. Die Tatwaffe, eine Maschinenpistole von Heckler und Koch, habe sie in ein Depot im Ausland bringen sollen. Sie habe mit der Waffe nie geschossen, auch habe sie nicht Motorrad fahren können. An konkreten Anschlagsvorbereitungen sei sie nicht beteiligt gewesen. Bei der Entscheidung, den Generalbundesanwalt zu ermorden, habe sie sich nicht hervorgetan. Sie habe das lediglich, wie alle der RAF, gebilligt.
Verena Becker nannte keine Namen, belastete oder beschuldigte niemanden. Und sie äußerte sich mit keinem Wort zum Verfassungsschutz. Fragen beantwortete sie nach ihrem Statement nicht.
Verena Becker hätte weiter schweigen können. Warum tat sie es nicht?
Eine strafrechtlich und verteidigungstaktisch schulbuchmäßige Erklärung. Nur: nötig war sie nicht. Der Prozess hatte bisher zwar eine Reihe von Indizien für ihre Täterschaft zutage gefördert, aber keine Beweise. Und auch keine Hinweise auf andere Täter. Zu dick und eng ist die Mauer um den Fall Buback. Verena Becker hätte weiterhin schweigen können. Sie hat sich sogar unnötig selber leicht belastet, indem sie eingestand, zur RAF gehört zu haben, bei Anschlagsdiskussionen dabei gewesen zu sein und die Waffe transportiert zu haben. Warum also trotzdem dieser Auftritt?
Es war der Prozessverlauf, der sie zum Reden brachte. Er hat massenhaft Widersprüche im Mordfall Buback sichtbar gemacht und so eigenen Druck entwickelt. Unter der Oberfläche der eisern schweigenden Angeklagten war die Lavamasse flüssig geworden.
Bisher gibt es keine Beweise für Beckers Täterschaft, aber durchaus gravierende Indizien: den Besitz der Tatwaffe; oder dass sie einen Schraubenzieher aus dem Werkzeugset des Tatmotorrads bei sich hatte; am Ort, wo das Motorrad nach der Tat abgestellt wurde, fand sich eine Fußspur Größe 40, Becker hat Größe 40; es gibt zwei Zeugen, die unabhängig voneinander zu Protokoll gaben, aus dem Mund von Christian Klar gehört zu haben, Becker sei die Schützin auf dem Motorrad gewesen; mehrere Tatzeugen haben eine Frau als Schützin wahrgenommen. Schließlich belastet sie sich in beschlagnahmten Notizen selbst.
Im Sommer 2009 wurden bei der Durchsuchung ihrer Wohnung in Berlin-Grunewald schriftliche Unterlagen sowie ihr Computer mit ihrem E-Mail-Verkehr sichergestellt. Zwei Prozesstage lang wurde dieses Material präsentiert. Es sind Zeugnisse ihrer von Selbstzweifeln durchzogenen Persönlichkeit, aber auch ihrer fortbestehenden Kontakte zu Ex-RAF-lern. Zum Beispiel zu Brigitte Mohnhaupt. In einigen Notizen setzt sie sich mit der Tat auseinander. Am 7. April 2008, dem 31. Jahrestag des Attentates, schrieb sie: "Ich weiß noch nicht, wie ich für Herrn Buback beten soll. Ich habe kein wirkliches Gefühl für Schuld und Reue. Natürlich würde ich es heute nicht mehr machen."
Nur, was genau würde sie nicht mehr machen? In einer anderen Notiz vom März 2009 spricht sie von ihrem "Täterwissen". Und auch zu ihrer Verbindung zum Verfassungsschutz finden sich in Beckers Notizen Anhaltspunkte.
Indizien, die ihre Wirkung entfalteten. Auch gegenüber der Bundesanwaltschaft. Welche Rolle sie spielt, wurde immer zweifelhafter. Immer wieder trat sie auf und argumentierte, als ob sie die Verteidigung von Becker sei. Die Prozessvertreter der Karlsruher Behörde, Bundesanwalt Walter Hemberger und Oberstaatsanwältin Silke Ritzert, bissen und schlugen auf alles ein, was Becker belasten könnte: Zeugen, Spuren, Indizien. Zuletzt bei der Fußspur Größe 40, auf die der Sohn des Ermordeten, Michael Buback, aufmerksam machte. Hemberger erklärte demonstrativ, nicht ermitteln zu wollen, welche Schuhgröße die von der Bundesanwaltschaft der Tat verdächtigten Männer Klar, Sonnenberg und Wisniewski haben, und nicht nachforschen zu wollen, ob ein Vergleich der Spur mit Schuhen von Becker vorgenommen worden war. Eine solche kategorische Weigerung grenzt an Strafvereitelung im Amt. Die "schützende Hand" über Verena Becker – sie war in diesem Gerichtssaal leibhaftig zu sehen.
Bemerkenswerte Deckungsgleichheit zwischen Anklage und Angeklagter
Bundesanwalt Walter Hemberger ging nach der Becker-Erklärung vom 14. Mai davon aus, dass die Angeklagte wisse, wer das Mordkommando in Karlsruhe stellte. Gleichzeitig jedoch anerkannte er ihre Erklärung, nicht auf dem Motorrad gesessen zu haben. Diese Spekulation sei durch die Becker-Einlassung nun ein für allemal vom Tisch, so Hemberger. Eine bemerkenswerte Deckungsgleichheit zwischen Anklage und Angeklagter bei diesem gravierenden Verdachtsmoment. Auch, dass Becker mit keinem Wort auf ihre Beziehungen zum Verfassungsschutz einging, bemängelte der staatliche Vertreter nicht. Dabei ist gerade die Kombination von beidem explosiv.
Der 6. Strafsenat des OLG Stuttgart hat jedenfalls große Energie aufgebracht, auch den Geheimdienst-Hintergrund des Falles aufzuklären. In welchem Zusammenhang stand der Verfassungsschutz mit dem Attentat? Ein halbes Dutzend Verfassungsschützer hat das Gericht gehört. Alle hatten eng gefasste Aussagegenehmigungen. Manche Unterlagen wurden dem Gericht nicht oder nur geschwärzt zur Verfügung gestellt. Mehrmals wurde die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung ausgeschlossen, wenn es um Interna ging.
Richard Meier, Verfassungsschutzpräsident in den fraglichen Jahren 1977 bis 1983, ließ einen Tag vor seiner Vernehmung krankheitsbedingt absagen – danach war er verhandlungsunfähig. Das Gericht hörte den Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz in Hamburg, Manfred Murck.
Denkwürdig war die Vernehmung von Ludwig-Holger Pfahls, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz von 1985 bis 1987. Er sitzt in der JVA Bayreuth eine mehrjährige Haftstrafe ab und wurde in Handschellen vorgeführt. Verena Becker sehe er zum ersten Mal, antwortete er auf Frage des Gerichts. Dass sie eine V-Frau des Verfassungsschutzes gewesen sein soll, habe er in seinem Amt nicht zur Kenntnis bekommen. Dass sie die Schützin gewesen sein soll, auch nicht.
Der Zeugenauftritt war vor allem ein Sinnbild: Ein früherer Chef des Inlandsgeheimdiensts der Bundesrepublik Deutschland, als Häftling in den Zeugenstand geführt, im Prozess um das Attentat auf den Generalbundesanwalt vor 35 Jahren, gegen ein ehemaliges Mitglied der Terrororganisation RAF, zugleich Informantin des Verfassungsschutzes – in dieser Szene schien die ganze Dimension des Falles eingefangen. Dem Gericht gelang es bisher nicht, das Buback-Becker-Rätsel zu lösen. Auch durch den ranghöchsten Zeugen nicht: Gerhart Baum, von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister.
Eine Mauer um das Buback-Attentat
Beide Seiten schweigen: die RAF-Täter, aber auch Vertreter von Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden. Beide zusammen bilden die Mauer um das Buback-Attentat.
Die Angeklagte ist die große Unbekannte geblieben. Auch nach ihrer Aussage am 14. Mai. Zu jedem Sitzungstag reiste die 59-Jährige aus Berlin an. Hundertmal fiel an jedem Prozesstag ihr Name. Sie schwieg, aber sie war bei der Sache. Sie schaute die Zeugen an, auch wenn man keinen Blick erkennen konnte, weil sie ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbarg, die sie aus gesundheitlichen Gründen (zu wenig Tränenflüssigkeit) im Gerichtssaal tragen darf. Bei der Verlesung ihrer Unschuldserklärung nahm sie die Brille ab. Man hörte erstmals ihre Stimme und konnte ihr Gesicht sehen.
An zwei Prozesstagen nahm Michael Buback selber auf dem Zeugenstuhl Platz. Bis heute wenden sich Menschen an ihn, die meinen, etwas zur Aufklärung des Falles beitragen zu können. Die ganze Zeit wich Beckers Blick nicht von Buback. Stundenlang. Am Ende wandte der sich persönlich an die Angeklagte und bat sie, doch zu sagen, wo sie am 7. April 1977 war. Wenn sie nicht in Karlsruhe dabei war, könne man den quälenden Prozess sofort beenden. Becker blieb stumm. Das war im November 2011.
Ein halbes Jahr später spricht sie dann doch und erklärt sich für unschuldig. Doch das ist der wunde Punkte: Verhält sich so eine Unschuldige? Warum nimmt sie 20 Monate lang die Mühen auf sich, Woche für Woche aus Berlin anzureisen, und erklärt nie, unschuldig zu sein? Warum lässt sie sich im Sommer 2009 wochenlang in Haft nehmen, wenn sie unschuldig ist? Und vor allem: warum beantwortet sie dann keine einzige weitere Frage? Etwa wie sie an die Tatwaffe kam und wann. Oder: woher sie den Suzuki-Schraubenzieher aus dem Werkzeugset des Tatmotorrads hatte. Aber auch: seit wann sie Kontakt zum Verfassungsschutz hatte. Keine dieser Fragen hat Verena Becker in ihrer Stellungnahme beantwortet.
"Ich werde niemanden verraten und keine Namen nennen"
Doch warum hat sich Verena Becker überhaupt geäußert? Zur Aufklärung des Falles trägt sie nichts bei. Und warum die Vorankündigung? War mit ihrem Auftritt vielleicht eine Botschaft verbunden? Wenn ja, wer war der Adressat? Das Gericht, wie sie erklärte? Das hieße, es zu unterschätzen, und das weiß auch die Verteidigung. War der Adressat die frühere RAF-Gruppe? Wenn Verena Becker nicht die Todesschützin auf dem Motorrad war, dann wusste sie zumindest, wer ihr die Tatwaffe gab. Am 14. Mai hat sie dann zu verstehen gegeben: "Ich werde niemanden verraten und keine Namen nennen." Wenn sie aber doch die Mörderin Bubacks war, dann kann ihre Botschaft denjenigen gegolten haben, die ebenfalls bestreiten, dass sie die Schützin war, etwa der Bundesanwaltschaft. Und dass sie kein Wort über den Verfassungsschutz verlor, ist eine Botschaft an ebenden: "Ich werde dazu weiter schweigen." Für diese Botschaften brauchte sie die öffentliche Bühne.
Das Urteil gegen Verena Becker wird für etwa Juli 2012 erwartet. Der Fall Buback bleibt ungelöst, das heißt aber: er geht weiter. Er ist zum Stachel im Fleisch des Staatsapparats geworden.
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