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"Es geht nicht um Sexualpraktiken"

"Es geht nicht um Sexualpraktiken"
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Sie fürchten Pornographie für Vierjährige und machen dem Kultusminister die Hölle heiß: die Gegner der Bildungspläne, in denen die Akzeptanz sexueller Vielfalt zum Unterrichtsthema werden soll. Was ist eigentlich los im Lande? Das fragt sich auch Andreas Stoch.

Herr Stoch, wie erklären Sie sich diese verklemmte, verkniffene Diskussion, die eine Pornographisierung der Gesellschaft fürchtet?

Es gibt offensichtlich Menschen, die ein Interesse daran haben, Konflikte zu schüren, weil sie ein grundsätzliches Problem mit gesellschaftlichen Veränderungen haben. Die Online-Petition gegen den Bildungsplan arbeitet mit Unterstellungen und wirft der Regierung vor, sie wolle die Schüler umerziehen und würde in unzulässiger Weise auf das Familienbild einer Gesellschaft einzuwirken. Ich erinnere mich an Schilder, die bei Demonstrationen hochgehalten wurden: Keine Pornographie für Vierjährige. Es tut mir sehr leid, aber das ist so absurd, dass man schon fast darüber lachen kann.

Es gab verbale Amokläufe, Mailschreiber, die Sie steinigen wollten. Wie wird im Hause Stoch über den Aufreger sexuelle Vielfalt diskutiert? Schließlich ist Ihre Frau als Sonderschullehrerin auch vom Fach.

Natürlich werde ich immer wieder darauf angesprochen, auch wenn meine Frau dabei ist. Aber ich möchte diese unerfreulichen Dinge möglichst von meiner Familie fernhalten. Sie soll von meiner Amtsführung im Guten und Schlechten so wenig wie möglich beeinträchtigt werden.

Politikerkinder wie etwa Walter Kohl erzählen, wie sie geschnitten und beleidigt wurden in der Schule. Ihre vier Kinder gehen auf die Waldorfschule. Werden die als Pornokids gehänselt?

So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Das waren ja Auswüchse. Meine Kinder waren schon an der Schule, bevor ich Minister wurde. Und in Heidenheim werde ich als Mensch und nicht als Minister wahrgenommen. Nein, für meine Kinder ist es kein Problem.

Dann fragen wir den Vater. Haben Ihre Kinder mal von schwulen Lehrern oder Jugendlichen erzählt, von Menschen, bei denen es nicht so läuft wie bei Ihnen zu Hause?

Zu unserem Bekanntenkreis gehören auch Menschen, die nicht heterosexuell sind, und das kriegen die Kinder ganz selbstverständlich mit. Meine zwei Älteren sind 13 und 15 Jahre alt, da kommen Fragen, wenn sie anstehen. Aber ich finde es schwierig, wenn Eltern Diskussionen zu gesellschaftlichen Fragen anzetteln, die die Kinder gar nicht wollen. Meine Kinder kriegen ihre Informationen auf vielfältige Weise und schaffen sich ein Gesellschaftsbild, wie es ihrem Umfeld entspricht.

Sie würden ja ein Bild der Schule Ihrer Kinder kriegen, wenn Sie mal fragen würden: Kursiert bei euch im Schulhof auch schon der Spruch "Hitzlsperger ist jetzt frei für dich"?

Wenn es diese Themen gäbe, würden sie das sagen. Wir haben das mal in einen Gespräch im familiären Kreis thematisiert, da kam nichts aus dem privaten Erfahrungsfeld.

Das scheint ja eine richtig heile Welt zu sein in Ostwürttemberg. Was meinen denn die nicht heterosexuellen Paare in Ihrem Bekanntenkreis zu dieser "überspannten Debatte"?

Im privaten Umfeld wurde eher darüber diskutiert, wie das Thema instrumentalisiert wird. Und wie versucht wird, mit religiös anmutenden Argumenten schroffe Werturteile zu fällen. Ein Vertreter der Evangelischen Allianz sagte kürzlich in einer gemeinsamen Fernsehdiskussion: Der Mensch kann nicht segnen, was Gott nicht gesegnet hat. Das finde ich anmaßend, wenn sich Menschen ein Urteil darüber erlauben, was Gott segnen würde und was nicht. Und wenn der Herr Stängle ....

... der Initiator der Online-Petition ...

... sagt, Jesus hat sich nicht positiv über Homosexuelle geäußert und deshalb habe er Homosexualität abgelehnt, dann muss ich sagen: Das ist mir alles zu holzschnittartig.

Da laufen Sie doch vor der Realität davon. Weder im Vatikan noch in der evangelischen Kirche findet ein offener, liberaler Umgang mit Lesben und Schwulen statt.

Ich laufe vor gar nichts davon, vor allem nicht vor einer Gesellschaft, von der ich immer noch glaube, dass ein vorurteilsfreier, offener Umgang der Menschen miteinander wichtig für die politische Kultur ist. Ich maße mir auch nicht an, der Kirche Ratschläge zu geben, wie sie mit bestimmten Themen umzugehen hat. Ich mache aber deutlich, dass wir an unseren Schulen ein Klima schaffen müssen, in dem etwa Homosexualität, die offensichtlich immer noch nicht als normal betrachtet wird, endlich als Lebenswirklichkeit anerkannt wird. Wir wollen keine Veränderung der Sexualmoral herbeiführen, wie von denjenigenen immer behauptet wird, die sexuelle Vielfalt als Ausübung von Sexualpraktiken verstehen. Das ist Quatsch. Uns geht es um die vielfältigen Lebensformen in der Gesellschaft, nicht um Sexmoral.

Sie nennen es Quatsch. Befallen Sie denn manchmal Zweifel, ob wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben?

Ich will meine Meinung über einzelne Menschen nicht auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Dass da eine Breitenwirkung erzielt wurde, bedarf einer Analyse. Aber ich habe mitgekriegt, wie diese 192 000 Unterschriften oder besser gesagt Klicks zustande gekommen sind. Ich kenne kirchliche Vereinigungen, die für die Petition geworben haben mit dem Hinweis, hier könne man sich aktiv für den Wert von Ehe und Familie einsetzen.

Auch der rechtspopulistische Blog Politically Incorrect (PI) gehörte zu den Petitionswerbern.

Auf dieser Homepage versammelt sich eine unselige Melange aus Ressentiments und chauvinistischen Gedanken. Daraus lässt sich schließen, dass da einige aus dem nicht eben aufgeklärten und liberalen Milieu dieser Gesellschaft unterwegs sind und politisch eigenartige Gedanken verfolgen.

Hat Sie das wirklich überrascht? Wo waren denn Ihre Warnleuchten, als Sie den Bildungsplan formuliert haben? Ihr politisches Gespür, dass in diesem Begriff Verhetzungspotenzial liegt?

Es ging hier erst einmal um ein Arbeitspapier. Wir sind zwar sicherlich nicht schuldlos, was die Frage angeht, ob hier nicht ein Missverständnis begünstigt wurde. Die Warnleuchten, und das weiß man im Nachhinein immer besser, haben nicht hell genug geleuchtet, als es um die Häufigkeit des Begriffs sexuelle Vielfalt ging. Aber ist es auch unbedingt notwendig, bei einem Schritt eines internen Arbeitsprozesses Warnlampen leuchten zu lassen? Letztlich zahlen wir an dieser Stelle den Preis für Transparenz, dafür, dass wir einen Beirat hatten und mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, übrigens auch den Oppositionsparteien, diskutiert haben.

Was heißt interner Arbeitsprozess – in Wirklichkeit ist es doch so, dass das Papier auf den Tisch kam, ausdifferenziert bis hin zu einzelnen Fächern. Und es gab Leute, wie die GEW-Vorsitzende Doro Moritz, die gewarnt haben vor dem Verhetzungspotenzial.

Die "Warnhinweise" kamen alle mehrere Woche später, als die Online-Petition schon am Start war. In der Beiratssitzung im November vergangenen Jahres wurde über die Systematik der Leitprinzipien diskutiert, nicht über den Aspekt sexuelle Vielfalt, auch nicht von den Kirchen, auch nicht von den Oppositionsparteien. Die GEW vor allem wollte das Thema als eigenes Leitprinzip verankern. Wenn sie jetzt gute Ratschläge erteilt, dann nervt das doch etwas.

Noch so eine überspannte Debatte, die derzeit von Baden-Württemberg aus geführt wird, angestoßen von der Stuttgarter Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff: Onanie gehört verboten, künstliche Befruchtung erzeugt Halbwesen. Fragen Sie sich manchmal: Was ist eigentlich los in diesem Land?

Natürlich frage ich mich, was die Ursache ist für ein solches gesellschaftliches Klima. Doch die Tatsache, dass hier in Stuttgart mal 600 Leute demonstriert haben, ist für mich noch kein Beleg dafür, dass Baden-Württemberg kein weltoffenes Land wäre. Und wenn eine Schriftstellerin eine Äußerung tätigt, die aus meiner Sicht unsinnig ist, dann reicht das für mich auch nicht, um einen gesellschaftlichen Rollback zu beklagen. Diese Stammtischdebatten hatten wir schon immer. So läuft es immer, wenn für komplexe Vorgänge einfache Erklärungsmuster gesucht werden. Außerdem ist die Aussage von Frau Lewitscharoff nicht eben ein Ausbund an intellektueller Feinsinnigkeit.

Jedenfalls schaut man auf Baden-Württemberg, und das Land wird mal wieder als spießig und konservativ wahrgenommen. Schluss mit Aufbruch und Labor, alles beim Alten?

Gut, womöglich hat das Land in der Außenwahrnehmung durch diese Debatten einen kleinen Rückschlag erlitten, weil sie bundesweit als Rollback wahrgenommen werden. Damit muss man leben. Ich kenne aber viele Menschen hier im Land, die den Regierungswechsel 2011 als Aufbruch verstanden haben, weil sie merkten, es geht mit den Schwarzen nicht mehr vorwärts. Veränderungen rufen immer auch Ängste hervor bei Menschen, die sich bequem im Gewohnten eingerichtet haben. Und gerade im Bildungsbereich sind Veränderungen dringend nötig. Im Vorschulbereich hat die CDU-Landesregierung dafür gesorgt, dass wir bundesweit am Ende des Ausbaus der Kinderbetreuung waren, bei Ganztagsschulen ebenso. Heute wollen 70 Prozent der Eltern eine Ganztagsschule im Sinne einer besseren Vereinbarung von Familie und Beruf.

Wie wollen Sie politisch mit diesen Ängsten umgehen?

Indem ich Fakten nenne. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Schüler um zehn Prozent zurückgegangen, in den nächsten Jahren werden es nochmal 20 Prozent sein. Wenn wir die Strukturen sich selbst überlassen würden, hätten wir ein massenhaftes Schulsterben, gerade auch im ländlichen Raum. In der Ländervergleichsstudie 2013 ist Baden-Württemberg in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften auf Platz neun gerutscht. Da hat sich die frühere Regierung zu lange auf den Lorbeeren ausgeruht. Und wenn ein Sechstel der Kinder eines Jahrgangs entweder keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung hat, dann hat dieses Schulsystem für zu viele keine guten Voraussetzungen geschaffen. Es kann nicht so bleiben, wie es ist, und zwar nicht aus ideologischen, sondern allein aus faktischen Gründen.

Was passiert, wenn die Eltern feststellen, dass in den Bildungsplänen in einer Klasse die unterschiedlichen Niveaus festgeschrieben werden? Dass also ihre supergescheiten Kinder mit den weniger gescheiten zusammen lernen sollen?

Das ist in der Gemeinschaftsschule und etwa in Schulen, die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden, gelebte Praxis, das weiß jeder. Wir müssen, egal ob in der Gemeinschafts- oder Realschule oder im Gymnasium, in allen Schularten mit den Kindern pädagogisch sinnvoll umgehen, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit.

Die Akzeptanz der sexuellen Vielfalt ist für Sie auch eine absolute Selbstverständlichkeit. Trotzdem haben Sie Probleme gekriegt mit bestimmten Kreisen. Und die werden Sie jetzt mit den Eltern bekommen.

Das ist den Eltern schon vorher bekannt gewesen und entspricht dem heutigen Stand der Pädagogik.

Sie sind ein Optimist.

Nein, Realist.

Nun will der Realist den Bildungsplan so überarbeiten, dass er möglichst breit akzeptiert wird. Einknicken wollen Sie aber auch nicht. Wie kriegen Sie das hin?

Ich werde nicht zurückrudern. Ich habe zu meinen Mitarbeitern, nachdem die Petition herauskam, gesagt: Wir müssen deutlich machen, wie hier mit Unterstellungen gearbeitet wird. Es geht nicht um die Frage von Sexualpraktiken, sondern um Toleranz und Akzeptanz. Wir hatten nie vor, die Familie in Frage zu stellen.

Schaffen Sie das in dem eng gestrickten Zeitplan, oder werden Sie die Bildungspläne auf Herbst 2016 schieben?

Das Landesinstitut arbeitet ebenso unter Hochdruck wie das Kultusministerium. Jeder neue Bildungsplan lebt davon, dass er erfolgreich umgesetzt wird. Wenn ich in der Systematik der Leitprinzipien jetzt noch etwas ändere, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich das gesamte Verfahren verzögert. Dann müssen wir diskutieren, ob sich die hohe Qualität, die wir liefern wollen, in dem Zeitrahmen 2015/16 noch halten lässt. Das überprüfen wir derzeit. Deshalb ist für mich die Erprobungsphase so wichtig, weil die Rückmeldungen aus den Schulen wichtige Hinweise darauf geben, ob noch deutlich verändert werden muss.

Das heißt, Sie sagen im Chor mit Ministerpräsident Kretschmann: Kann sein, dass die Zeit zu knapp wird?

Ich sage, wir schulden unseren Schulen einen guten Bildungsplan. Da geht Qualität vor Zeit.


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51 Kommentare verfügbar

  • Josef
    am 02.04.2014
    Antworten
    @ er:

    Ich bin in dieser Hinsicht Ihrer Meinung, dass man die Menschen lieben soll, aber man muss auch klar differenzieren, was Sünde ist. Denn die Bibel äußert sich dazu klar und deutlich. Und für mich ist Homosexualität Sünde, weil die ganze Bibel für mich Gottes Wort ist. Aber das heißt nicht,…
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