Mittlerweile sind die Wagenhallen stadtbekannt. Das Bewusstsein für Künstlerinitiativen ist gestiegen. Zwei der sechs Arbeitsgruppen des Kulturdialogs, in dem Bürger und Vertreter von Stadt und Kulturinstitutionen zwei Jahre lang über Perspektiven der kulturellen Entwicklung debattierten, beschäftigten sich mit "Raum für Kunst und Kultur – Chancen für die Stadtentwicklung" und der Situation von Künstlern. "Kreative Räume sind die Labore für eine lebendige, menschliche, sinnstiftende und zukunftsfähige Stadt", heißt es im Abschlussdokument, das im Juli 2013 dem Gemeinderat vorgelegt wurde. Dort steht aber auch: "Es gibt in Stuttgart einen großen Bedarf nach bezahlbaren und planbaren Ateliers in allen Sparten."
Stadtbekannt sind vor allem die Aktivitäten des Kulturbetriebs Wagenhallen, der am Nordbahnhof Konzerte, Flohmärkte und Catering anbietet und die Hallen für Events vermietet, aber auch das Wilhelmspalais im Stadtzentrum nach dem Auszug der Stadtbücherei, vor dem Umbau zum Stadtmuseum in eine angesagte Party- und Veranstaltungslocation verwandelt hat. Weniger klar war bislang wohl den meisten, was die 80 Künstler so treiben, die im Bereich der Wagenhallen arbeiten. Gleich zwei Ausstellungen geben derzeit einen exzellenten Einblick. Die Städtische Galerie Backnang hat auf eigene Initiative Arbeiten von 23 Künstlern ausgesucht, die nun im dortigen Turmschulhaus und dem benachbarten Grafikkabinett ausgestellt sind. Und im Stuttgarter Künstlerhaus hat Robert Steng, selbst Nordbahnhof-Künstler, eine Ausstellung kuratiert.
Es ist ein buntes Panorama. Jeder Versuch, die Gemälde, Skulpturen, Grafiken, Installationen und Videos auf einen Nenner zu bringen, läuft Gefahr, mitgebrachte Klischeevorstellungen von einer trashigen Subkultur unterschiedslos auf Arbeiten zu projizieren, die in ganz verschiedene Richtungen gehen. Allenfalls lässt sich bei vielen eine ironische Grundhaltung konstatieren, die vielleicht weniger mit den Wagenhallen zu tun hat, als vielmehr damit, dass die meisten an der Stuttgarter oder einer anderen Kunstakademie studiert haben. Das scheinbar Rohe, Naive, Handgemachte resultiert nicht aus einem Mangel an intellektueller Kapazität, sondern unterläuft bewusst hochgestochene Ansprüche. Stengs konstruktive Arbeiten bestehen nicht aus glänzendem Metall, sondern aus Altholz und alten Möbelteilen. Susa Reinhardt malt mit Öl und "Schmutz" oder auf einem arg zerschlissenen alten Teppich. Wolfhart Hähnels geniale kinetische Skulpturen, die auf Knopfdruck zu rattern beginnen und schrille Laute ausstoßen, bestehen aus Altmaterial, bis hin zum Stecker aus Bakelit und den mit Garn umsponnenen Kabeln. Mit ganz anderen Mitteln inszeniert Pia Maria Martin auf Video mit den Tellern, dem Besteck und den Speisen eines von oben aufgenommenen Banketts ein nicht weniger geisterhaftes Ballet.
Jazz und Folk im Eisenbahnwagen
Gegenüber der Zukunftsgewissheit der klassischen Modernen kommt in einigen Arbeiten etwas anderes zum Vorschein, das sich als Eintauchen in die Zeit beschreiben lässt. Aus den Hoffnungen von einst sind Albträume geworden, statt nach vorn richtet sich der Blick zurück. Dies gilt für Steffen Osvaths Gruselkabinett aus bearbeiteten Schwarzweißfotos, verbrannten Stühlen und ausgestopften Tieren nicht weniger als für David Baurs Bild eines Jagdfliegers aus dem Zweiten Weltkrieg, zu dem er schreibt: "Das Gemälde entstand ohne das Wissen um die Existenz von Gerhard Richters Düsenjäger und ist vergleichsweise günstig." Dies mag glauben wer will, der Kommentar wirft auf jeden Fall ein Licht auf die Selbsteinschätzung des Künstlers.
An den Wagenhallen arbeiten auch Architekten wie Ferdinand Ludwig, der Konstruktionen aus lebenden Bäumen anfertigt, und Musiker wie Stefan Charisius, der vielleicht als Einziger nördlich des Mittelmeers das westafrikanische Saiteninstrument Kora spielt. Es gibt den Club Tango Ocho, Schmuck- und Modedesigner, Gaukler und Bühnenbildner sowie Tobias Husemann, den Erfinder der fünf Meter hohen Drahtfigur Dundu, die auf Stuttgart-21-Demos ebenso zu sehen ist wie beim Neujahrsempfang der Stuttgarter Messe.
3 Kommentare verfügbar
stuttgart pro nordbahnhof
am 16.01.2014hoffentlich werden es immer mehr, die das wertschätzen !