KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Das Wettern der Woche

Das nette Faschistle

Das Wettern der Woche: Das nette Faschistle
|

Datum:

Alle hatten Angst vor'm 9. Mai 2022. Weiß man's? Wer Deutschland vom Faschismus befreit hat, ist vielleicht zu allem fähig. Ich geb' gern zu: Unsere Väter und Großväter wollten nicht unbedingt befreit werden und vor allem nicht von der Sowjetunion. Ganz im Gegenteil, sie hätten lieber gesiegt, mit Gott für Führer und Vaterland: Koste es, was es wolle. Kann man verstehen, nach all den Verbrechen, die begangen wurden und meistens bis heute ungesühnt blieben. Die Vorsehung hat in beiden Fällen geholfen, 1945 unseren Ahnen und heute uns: Putin will erst morgen siegen.

Putin fällt das leicht: Die gleichgeschalteten Medien transportieren seine Botschaft vom Verrat des Westens an der "christlichen Zivilisation", an den Werten der Menschheit (außer den Menschenrechte, die bleiben außen vor) erfolgreich ins großrussische Reich: Byzanz fiel, weil es sich dem spirituellen Niedergang auslieferte. Gestern die Osmanen, heute Drogen, Schwule, Genderei – und der liebe Gott ganz weit weg.

Putins praktische Philosophie ist eine Mischung aus deutschem Idealismus, Psychoanalyse, italienischem Faschismus und Christentum. Oder? 65 Prozent der russischen Bevölkerung bezeichnen sich als Angehörige eines orthodoxen Christentums – so was schlägt in der gelenkten russischen Demokratur bei den Wahlen gut zu Buche. Erstens wohnen im Westen die Dämonen (kann ich bestätigen), zweitens ist die großrussische Zivilisation einzigartig. Memorial bestreitet das. Memorial ist die erste freiwillige Massenvereinigung in der Sowjetunion, die "von unten" aus der Zivilgesellschaft heraus, auf Initiative ehemaliger linker politischer Gefangener und ihrer Angehörigen entstand und vielen jungen, politisch interessierten Menschen die Augen öffnete und das mystisches Verhältnis zwischen Volk und autoritärer Herrschaft kritisierte – Aufklärung über Stalin und Putin ist der wichtigste Grund für den Untergrund und das Verbot.

Querdenker mögen sowas, Verschwörungstheoretiker lecken am Denkmal im Kreml. Der größte Star von ihnen war Xavier Naidoo. Dem Faschistle aus Mannheim war keine Story zu absurd. Die Erde sei gar keine Kugel, die Corona-Impfung will aus Menschen Zombies machen und es gibt eine Welt-Elite, die Kinder in Tunnelsystemen (Stuttgart 21?) foltert. So wird Adrenochrom gewonnen und von Hollywoodstars zur Bekämpfung des Alterungsprozesses genutzt. Vermutlich alles ziemlich teuer. Wenn Naidoo, der Freund von Reichsbürgern und Antisemiten, angepinkelt wird, stehen 100 Prominente hinter ihm: Atze Schröder, Mario Adorf, Die Prinzen, Pur, Thomas D, Tim Mälzer, Jan Josef Liefers – so viele, dass einem schlecht wird nach Sicht auf die einseitige Anzeige 2015 in der FAZ. Vergessen wir's. Doch Naidoo hat in der Folge immer noch kräftig was Rechtsradikales draufgelegt, ohne dass sich seine Gönner distanziert hätten. Das ganze kotzige rechtsradikale Elend dokumentierte das ZDF am 4. Mai 2022.

Die AfD ist trotzdem nicht im Landtag von Schleswig-Holstein, denn wenn Wähler wandern, bleibt kein Auge trocken. Nachdem schon die Linken am Sinken sind, sinken auch Sozialdemokraten: Ein letzter Gruß an die alte Volkspartei. Abgeschifft kieloben, sagt der Volksmund. Wenn alle in selben Boot sitzen wollen, wird der Platz eng. Gerettet wird, wer am nettesten aussieht. Ich. Do not panic – children and women first!


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 15.05.2022
    Antworten
    Nett, nett Peter Grohmann,
    um dem deutschen Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und auch Komponist das Wort zu erteilen -
    Theodor W. Adorno:
    „Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr der Faschisten in
    der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der
    Faschisten in der Maske der…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!