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Seelisch kaum zu bewältigen

Seelisch kaum zu bewältigen
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Das deutsche Gesundheitswesen mobilisiert alle Kräfte zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Doch bereits jetzt ist das Personal in vielen Kliniken an den Grenzen seiner Belastbarkeit. Und was passiert, wenn die Beatmungsplätze nicht mehr für alle Corona-Infizierten reichen? Dieses Szenario beschäftigt unter anderem das baden-württembergische Sozialministerium.

Tagtäglich gibt es neue Meldungen über weitere Kapazitäten, die in Kliniken, Pflegeheimen und Kommunen bereitgestellt werden. Medizinstudenten sowie Ärzte im Ruhestand melden sich angesichts der Personalnot freiwillig. Das erst kürzlich geschlossene Krankenhaus in Künzelsau im Hohenlohekreis wird beispielsweise zur Quarantänestation umgerüstet. Trotzdem bringt die Coronakrise bereits jetzt das Personal in vielen Kliniken an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, der psychische Druck steigt stetig an. Vor allem ein aus Italien und Spanien bekanntes Szenario macht dem medizinischen Personal zunehmend Angst: Was passiert etwa, wenn die Beatmungsplätze nicht mehr für alle Corona-Infizierten reichen?

Ein niedergelassener Arzt in Esslingen, der nicht namentlich genannt werden will, glaubt zwar nicht, dass es so schlimm wie in Italien oder Spanien kommt. Dennoch könnten seiner Ansicht nach Klinikärzte auch hierzulande bald vor einem ähnlichen Dilemma stehen. Von einem befreundeten Mediziner in Bergamo weiß er, dass dort inzwischen Corona-Patienten über 70 in der Klinik nicht mehr behandelt werden. Sarkastisch spricht er von "Killing Fields".

Spahns Neuregelungen

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat zwei Gesetzespakete auf den Weg gebracht "zur Unterstützung des Gesundheitswesens bei der Bewältigung der Corona-Krise". So erhalten zum Beispiel Krankenhäuser einen finanziellen Ausgleich für verschobene Operationen. Für Mehrkosten bei der Schutzausrüstung gibt es Zuschüsse. Krankenhäuser können durch Reha-Einrichtungen entlastet werden. Und in der ambulanten und stationären Pflege werden beispielsweise Qualitätsprüfungen ausgesetzt. (rl)

Der Begriff der "Triage" macht mittlerweile auch in Deutschland die Runde, womit Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung gemeint sind. Im Klartext: Es geht darum, zu klären, wer bevorzugt behandelt wird, wenn es zu viele Patienten und zu wenig Ressourcen zur Behandlung gibt.

"Wir werden schon auf solche Situationen vorbereitet, in denen es um die Abwägung geht, welcher Patient intensivmedizinisch behandelt werden soll, wenn nicht mehr genügend Beatmungsplätze zur Verfügung stehen", erklärt der Arzt, der anonym bleiben möchte. Diese Frage belastet ihn momentan am meisten. Dazu kommt der Ärger über die mangelnde Versorgung mit Schutzausrüstung und die Personalnot auf der Intensivstation. Schon jetzt arbeiten er und das gesamte medizinische Personal am Limit. Trotz der aus seiner Sicht richtigen neuen Regelungen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) fühlt er sich in wichtigen Punkten weitgehend alleingelassen.

Staat zieht sich aus der Affäre

Die Frage des Umgangs mit Triage-Situationen ist auch im baden-württembergischen Sozialministerium bereits angekommen. "Wir tun unser Möglichstes, um so eine Situation zu verhindern", betont Ministeriumssprecher Markus Jox. Aber auf Kontext-Nachfrage räumt er ein, dass angesichts ständig steigender Zahlen von Neuinfektionen mit dem Coronavirus Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) das brisante Thema am Montag in der Telefonkonferenz mit den Kliniken im Land angesprochen habe: Wie sollen sich die Kliniken auf eine Situation einstellen, wenn die Ressourcen nicht mehr für alle reichen? Konkrete Handlungsanweisungen zu geben, liege aber nicht in der Kompetenz des Sozialministeriums, heißt es.

Die öffentliche Debatte angestoßen hat Ende vergangener Woche der Deutsche Ethikrat mit einer Ad-hoc-Empfehlung für Ärzte. Konkrete Empfehlungen für die Coronakrise haben am 26. März auch Intensiv- und Notfallmediziner vorgelegt. In beiden Dokumenten wird dabei klargestellt, dass eine Auswahl nach kalendarischem Alter oder sozialen Kriterien ausgeschlossen werden müsse.

"Hier können Grenzsituationen entstehen, die für das behandelnde Personal seelisch kaum zu bewältigen sind", erklärt der Ethikrat: "Wer in einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung trifft, die ethisch begründbar ist und transparenten Kriterien folgt, kann im Fall einer möglichen (straf-)rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens mit einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rechnen." Objektiv rechtens ist jedoch seiner Ansicht nach, im Blick auf das Grundgesetz, das aktive Beenden einer laufenden Behandlung zum Zweck der Rettung eines Dritten nicht.

Der Tübinger Medizinethiker Professor Urban Wiesing hält diese Formulierung für unverständlich. Ihn ärgert, dass sich der Staat aus der Affäre zieht und die Entscheidung den Ärzten überlässt. "Diese dürfen sich die Hände schmutzig machen und dann auf die Gnade und Barmherzigkeit der Gerichte hoffen", erklärt der Wissenschaftler. "Ich bin mehr als verwundert", fügt er hinzu. Für ihn hat so eine Argumentation absurde Konsequenzen.

Wer sage, das Grundgesetz erlaube keine Triage, der müsse entweder nach dem Prinzip handeln, wer als erster komme, werde versorgt, oder er müsse würfeln, so Wiesing. Triage bedeutet Sichtung oder Sortierung und ist laut Wikipedia ein "nicht gesetzlich kodifiziertes oder methodisch spezifiziertes Verfahren zur Periodisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patienten und objektiv unzureichenden Ressourcen".

Ärzte im Dilemma

Nach Ansicht von Wiesing lässt das Grundgesetz andere Interpretationen zu. "Bei der Transplantation von Organen schreibt der Staat gesetzlich vor, nach welchen Prinzipien die knappen Organe verteilt werden müssen", sagt der Ethiker. "Warum kann er dies dann nicht bei knappen Beatmungsgeräten tun?"

Es gehe nicht um die Bewertung des einzelnen Lebens, sondern um die Verteilung von begrenzten Medizinkapazitäten aufgrund der Prognose für die Patienten. Deshalb lohnt sich für Wiesing ein Blick auf die internationale Debatte. Diese sei pragmatischer. Da gelte in Triage-Situationen oft die Maxime, die Zahl der Überlebenden zu maximieren. Dass Ärzte bislang nicht auf solche Extremsituationen vorbereitet sind, stellt auch die Akademie für Ethik in der Medizin in ihrer aktuellen Handreichung fest: Danach sind Triage-Situationen bislang auch nicht Gegenstand der Ausbildung für Ethikberatung.

PflegerInnen: Applaus reicht nicht

Stuttgarter Pflegebeschäftigte haben bereits am 24. März mit einer Aktion darauf aufmerksam gemacht, dass in der aktuellen Krise Applaus für ihre Arbeit nicht reicht: "Gestern kaputtgespart, heute großer Applaus. Es reicht! Keine Profite mit der Gesundheit" stand auf Transparenten, die sie am Krankenhaus in Bad Cannstatt, beim Robert-Bosch-Krankenhaus sowie am Marien- und Katherinenhospital anbrachten. In einem Aufruf hatte die Gruppe bereits zwei Tage davor auf die dramatische Situation der Pflege aufmerksam gemacht – und dazu aufgerufen, die Gunst der Stunde zu nutzen: "Wir, die Menschen in Pflegeberufen, die in diesen Tagen eine neue, selten dagewesene Wertschätzung erfahren, müssen diesen Moment der Stärke nutzen, um uns zu organisieren und zu erkämpfen, was längst überfällig ist: Eine bedarfsorientierte Ausrichtung des Gesundheitssystems mit einer starken Pflege!" (os)

Dass Ärzte vor einem solchen Dilemma stehen, wenn die Zahlen der Infizierten erwartungsgemäß weiter in die Höhe schnellen, räumt auch Frank Weberheinz, der Sprecher des Diakonieklinikums in Stuttgart ein. Schließlich verfügt das Haus mit rund 400 Betten nur über zwölf Beatmungsplätze. Der Betrieb wurde bereits bis auf notwendige Operationen auf Krisenmodus umgestellt. Auch Weberheinz begrüßt Spahns Verordnungen und Gesetze, wenngleich er auch befürchtet, dass die finanzielle Entschädigung für abgesagte Operationen und Behandlungen nicht ausreichend sein wird.

Angesichts von Materialknappheit und Personalnot rächt sich in der aktuellen Notfallsituation nach Einschätzung von Weberheinz die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre, alles im Sinne der Wirtschaftlichkeit zu optimieren und auf Effizienz auszurichten. Trotz alldem steht Deutschland nach der übereinstimmenden Einschätzung von Experten mit der Zahl an Krankenhausbetten europaweit an der Spitze. Doch dies lässt der Pfleger Alexander Jorde nicht als alleiniges Kriterium gelten.

Deutschland habe zwar genug Geräte und Betten, aber zu wenig Pflegekräfte, findet er und fordert bessere Löhne und anständige Arbeitsbedingungen. "Vielleicht verstehen Medien und Parteien dank #Covid19 nun endlich, wie wichtig Gesundheitspolitik für eine Gesellschaft ist und eben nicht nur ein Nischenthema ist", twittert der junge Krankenpfleger aus Hildesheim.

Im Interview mit dem "Tagesspiegel" sagte er: "Generell soll der Eindruck erweckt werden, dass man die Lage im Griff hat, Merkel hat eine beruhigende Ansprache gehalten. Dies sollte aber über die Realität nicht hinwegtäuschen. Spahn hat die Personaluntergrenzen ausgesetzt, was den Arbeitsdruck für uns weiter erhöhen wird. In Niedersachsen musste bereits letztes Jahr jede dritte Klinik Betten auf Intensivstationen sperren, weil das Personal dafür gefehlt hat. Wir hatten bereits vor Corona einen Pflegenotstand, der sich jetzt weiter verschärfen wird." Mit seiner Skepsis im Blick auf die Zukunft ist er längst nicht mehr allein.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Groß
    am 06.04.2020
    Antworten
    Brisant: Corona, Katzen und Kinder – Diese Themen gehen immer. Oliver Welke würde es in der heute show vielleicht so ausdrücken: „Es ist höchste Zeit, dass diese Blagen endlich in ihre Schulen zurückkehren.“ Politiker*innen wie die gesamte Journaille der Republik haben kein Problem mit dem Thema…
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