Den größten Teil Mazedoniens hatte Christos Liapusis bereits hinter sich, als er seinen Reisepass vorsorglich aus der Jackentasche zog, um ihn schon mal bereitzuhalten. Zumal serbische Grenzer seiner Erfahrung nach vor allem bei nächtlichen Kontrollen in einem Fernverkehrszug bisweilen humorlos sein können. Beim Blick auf das Dokument fuhr ihm der Schreck in die Glieder: Das Passbild zeigte nicht sein vertrautes Konterfei, sondern einen gut zehn Jahre älteren Mann mit Halbglatze. Überdies erinnerte er sich nicht daran, neuerdings "Georgios Birbilis" zu heißen.
Dafür konnte sich der pensionierte griechische Eisenbahner  zusammenreimen, wie er zu dem fremden Pass gekommen war. Da Liapusis in  Xanthogia wohnt, einem griechischen Dorf unweit der mazedonischen  Grenze, fährt er wie viele seiner Landsleute des Öfteren kurz ins  Nachbarland, um in der Grenzstadt Bitola günstig einzukaufen, sich die  Zähne richten zu lassen oder eben mit der Bahn ins Ausland zu fahren. Im  vorliegenden Fall passierte er den Schlagbaum als Teil einer  Fahrgemeinschaft, deren Chauffeurin zuvor die Pässe der Insassen  eingesammelt hatte, um sie im Verbund dem Zöllner auszuhändigen. Bei der  Rückgabe war Liapusis aus Versehen der Pass seines Sitznachbarn  übereignet worden, weshalb er nun unangenehme Fragen und serbische  Sanktionen auf sich zukommen sah. 
Als Nordgrieche des  Serbokroatischen halbwegs mächtig, hoffte der 62-Jährige auf die  verbindende Kraft der Sprache und redete mit dem Zöllner in dessen  Heimatidiom, als der das Passfoto einer kritischen Würdigung unterzog  und daraufhin investigative Fragen stellte: "Wie ist ihr Name?"  "Georgios Birbilis." "Wohin fahren Sie?" "Zu Verwandten nach  Deutschland, ich bin nur auf der Durchreise." "Dann ist das Sache der  Kroaten. Laku notschj!" "Gute Nacht!"
Vom Geist des Schengener Abkommens beseelt
Die  Sache der Kroaten war es dann auch nicht. Zumindest widmeten die  Wächter der EU-Außengrenze ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit mehr den  einreisenden Serben als EU-Bürgern mit falschen Pässen. Man gab sich  mit dem Blick auf die Gültigkeit des Dokuments zufrieden, ohne das  Antlitz des Reisenden in Augenschein zu nehmen.
Offenkundig vom  Geist des Schengener Abkommens beseelt, erledigten deren slowenische  Kollegen ihren Job per Ferndiagnose im Vorbeimarsch ("Die haben meinen  Pass noch nicht einmal in die Hand genommen"), während der  österreichische Beamte nördlich der Karawanken den hingehaltenen EU-Pass  ignorierte und lediglich wissen wollte, ob der Grieche zollpflichtige  Waren im Gepäck habe.
Allein der deutsche Kontrolleur nahm es  genauer, wobei er nicht den Ausweis, sondern einen gültigen Fahrschein  sehen wollte – den Liapusis dummerweise nicht besaß. Was dem Umstand  geschuldet ist, dass er als griechischer Bahnbediensteter a. D. einem  Abkommen zufolge bis zur deutschen Grenze gratis Zug fahren darf. Nach  einem kurzen bilateralen Gespräch unter alten Eisenbahnern drückte der  deutsche Kollege ein Auge zu und ließ den Griechen ohne Ticket  weiterfahren.
In Ulm angekommen, machte sich Christos Liapusis  unverzüglich daran, den Verbleib seines richtigen Reisepasses zu  ermitteln. In Ermangelung der Telefonnummer von Georgios Birbilis rief  er die griechische Polizei an und bat darum, ihm in dieser Angelegenheit  dienlich zu sein. Als hernach eine Streife vor Birbilis' Haustür stand  und ihm den Sachverhalt erklärte, fiel er seinerseits aus allen Wolken,  denn von dem Passwechsel hatte er bis dato nichts mitbekommen. Mit  anderen Worten: Ohne es zu wissen, war es auch ihm gelungen, anstandslos  mit dem Pass eines anderen in die EU einzureisen – nur in die andere  Richtung, nach Griechenland.

	      
	    
			
				
					
			

															
													
												
											
															
													
												
											

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