Sind diese Erlebnisse der Quell Ihrer Gewaltphantasien, ohne die kein Kriminalschriftsteller auskommen kann?
Möglich. Wir tragen alle eine verborgene Seite in uns, die uns selbst vielleicht nicht immer bewusst ist. Und die wir nicht als Kainsmal auf der Stirn tragen. Vor einigen Jahren habe ich in einer Justizvollzugsanstalt vor Gefangenen gelesen. Am Ende folgte ich einer Eingebung und fragte, ob Mörder darunter seien. Es hat mich plötzlich interessiert. Einer meldete sich sofort, beinahe stolz. Man hätte es ihm nicht angesehen. Kriminalwissenschaftler sagen, dass die Herkunft entscheide, ob Menschen zum Mörder werden. Ich kann das nachvollziehen. In Shanghai habe ich erlebt, wie die Müllabfuhr jeden Morgen erfrorene oder verhungerte Bettler von den Straßen aufsammelte. Ein Leben zählte nichts. Das konditioniert. Wenn ich mir nun vorstelle, ich wäre in familiär und materiell ungeordneten Verhältnisse aufgewachsen, dann wäre die Hemmschwelle zum Einsatz von Gewalt bei mir vielleicht auch niedriger.
Mit "Halali" haben Sie sich den Romeo-Agenten der DDR-Auslandsaufklärung und damit eines vergleichsweise seltenen Themas angenommen. Diese haben gezielt alleinstehende Frauen in Ministerin sowie Behörden umworben und je nach Einzelfall wissentlich oder unwissentlich als Informationsquellen abschöpften. Was fasziniert Sie daran?
Die Abgründe, die sich in jedem dieser tragischen Fälle auftun. Die Nähe von Verrat und Liebe, die wechselseitige Instrumentalisierung, die Gleichzeitigkeit von realer Gefahr und scheinbarer Geborgenheit. Der Ausnahmefall wird zum Alltag. Es ist sehr selten, dass das alles in einem Leben derart komprimiert zusammentrifft. Und als ich vor einigen Jahren über die Romeo-Agenten las, war mir sofort klar, dass ich diesen Stoff in einen Roman unterbringen wollte.
Weil Sie vielleicht doch politischer sind, als Sie zugeben?
Vielen Dank für das unterschwellige Kompliment, aber ich fürchte, ich werde ihm nicht gerecht. Private Beziehungen haben immer eine gesellschaftspolitische Seite, das lässt sich nicht vermeiden. Für was interessiert man sich, was wird verdrängt, welche Konflikte werden offen ausgetragen: Es gibt Konstellationen, die wären ein Fall für die Vereinten Nationen. Und weil sie es eben nicht sind, enden sie manchmal mit Mord.
Ingrid Noll: Halali, Diogenes, 2017, 320 Seiten, 22 Euro.
1 Kommentar verfügbar
Marla V.
am 01.11.2017Ist nicht -geschichtlich betrachtet, besonders aus deutscher Sicht- das erschreckende, dass Menschen, die in 'familiär…