KONTEXT:Wochenzeitung
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Vorsicht beim Zähneputzen

Vorsicht beim Zähneputzen
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Der Olympiasieger im Diskuswerfen, Robert Harting, befürchtet einen Doping-Anschlag. Das ängstige ihn enorm, sagt der Sportler des Jahres und erklärt den Kampf gegen das Doping für gescheitert. Wenig verwundert darüber zeigt sich Dieter Baumann, der vor 15 Jahren positiv getestet wurde. Seine Zahnpasta war gedopt. Er stimmt dem Kollegen zu und empfiehlt ihm, künftig bei der Mundhygiene aufzupassen.

Wer die ARD-Dokumentation von Hajo Seppelt ("<link http: www.daserste.de sport sportschau videosextern geheimsache-doping-wie-russland-seine-sieger-macht-102.html>Geheimsache Doping – wie Russland seine Sieger macht") gesehen hat, weiß, dass es in Russland flächendeckendes Doping geben soll. Dazu ein korruptes Antidopingsystem, das bis hinauf in die höchsten Etagen der Funktionäre und Laborchefs reichen soll.

Angesichts dieser Enthüllungen stellt die FAZ die Frage, ob der Antidopingkampf überhaupt noch einen Sinn habe? Weil man für solche grundlegenden Überlegungen gerne Mitstreiter hat, holt die Redaktion Diskusweltmeister und Olympiasieger Robert Harting in die Bütt, der um markige Worte nie verlegen ist. Er sagt, dass die "Wada", die Welt-Anti-Doping-Agentur, "gescheitert" sei. Allerdings halte er sich mit öffentlicher Kritik an bestimmten Personen zurück. Denn: "Wer positive Kontrollen vertuschen kann, der kann auch negative Proben manipulieren."

Das ist schon starker Tobak, aber es kommt noch härter. Ein Anschlag sei "sehr leicht auszuführen", sagt Harting, das sei "alles anscheinend möglich und verängstigt mich enorm."

Einen Anschlag auf einen Athleten? Wo gibt es das denn? Doch nicht im Sport! Der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbands (DLV), Clemens Prokop, war zu meiner Zeit eine Art Staatsanwalt des Sports und betonte immer, dass es solche kriminellen Energien im Sport nicht gäbe und ein Anschlag deshalb schlichtweg Unsinn sei. Mit solchen "Ausreden" wäre das ganze Antidopingsystem nicht nur gefährdet, sondern gescheitert. Weg, dahingerafft, wegen eines Anschlages, den es allein deshalb nicht geben darf.

Der Sport ist vor allem von einem Tatbestand bedroht: der Korruption

Der Grund für das Scheitern des Antidopingkampfs ist freilich ein ganz anderer. Ganz und gar gescheitert sind die Funktionäre nicht wegen eines Regelverstoßes eines Athleten, sondern wegen eines Tatbestands, der den Sport viel stärker bedroht: der Korruption.

Und damit will ich die Frage der FAZ, ob der Aktionismus der nationalen und internationalen Anti-Doping-Agenturen, der Verbände und der Sportgerichte noch einen Sinn hat, mit einem klaren Nein beantworten.

Bitte nicht falsch verstehen: Mitnichten rede ich der Dopingfreigabe das Wort. Doping zerstört den Sport in seinen Fundamenten. Dieser Meinung war ich immer und werde es bleiben. Mein Nein bezieht sich auf die Umsetzung des Antidopingkampfs. Oder sollte ich nach den Enthüllungen durch die ARD fragen: die Nicht-Umsetzung? Hier wird uns eine Show vorgeführt, hier werden uns Illusionen gemacht über einen Kampf, der so lückenhaft, so uneffektiv, so undurchsichtig, so korrupt ist, dass er nichts anderes ist als eine – lassen Sie es mich in den Worten von Harting deutlich sagen – Verarschung sauberer Athleten. Am Ende trifft es einzig und allein die Athleten. Kein Trainer, kein Arzt und kein Sportfunktionär muss sich vor einer Strafe fürchten.

Hilfe und Unterstützung gibt es für die Athleten nicht. Stattdessen müssen sie eine Vereinbarung unterschreiben, in der sie so ziemlich alle Persönlichkeitsrechte abgeben. Zugleich haben sie in Streitfällen vor den Gerichten des Sports zu erscheinen, die wiederum von dessen Funktionären oder verbandsnahen Juristen besetzt sind. Der Gang zu einem ordentlichen Gericht ist ihnen verwehrt – zumindest bis der Fall Claudia Pechstein entschieden ist. Die Eisschnellläuferin hat jüngst einen wichtigen Etappensieg errungen, nachdem das Oberlandesgericht München befunden hat, dass solche Zwangsvereinbarungen rechtlich keinen Bestand haben. Das kann also spannend werden, weil im neuen deutschen Antidopinggesetz vom November 2014 exakt ein solcher Passus steht, der die Athleten vor Schiedsgerichte des Sports zwingt. Wer nicht unterschreibt, kann an Wettkämpfen nicht teilnehmen.

"Wir wollen mit diesem Gesetz die Schiedsgerichtsbarkeit des Sports erstmals auch rechtlich absichern", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und fügte an: "Ich hoffe, dass die Bestimmung über die Absicherung der Sportgerichtsbarkeit vielleicht auch eine Art Vorwirkung in einem aktuellen Verfahren entfalten könnte." Damit meinte er das anhängige Pechstein-Verfahren, das jetzt zu Ungunsten des Sports beziehungsweise zu Ungunsten des Innenministers ausging.

Die herrschende Meinung wird in kleinsten Zirkeln ausgeheckt

Es ist schon bemerkenswert, wie das Zusammenspiel von Sport und Politik funktioniert. Immer wieder wird für den Sport, genauer für seine Verbände und Funktionäre, eine Sonderbehandlung eingefordert. Athletenrechte spielen keine Rolle. Unterstützt werden sie von Juristen, die sich gegenseitig zitieren, flankiert von Politikern, die diese Rechtsgelehrten zu Anhörungen beordern. Damit wird eine "herrschende Meinung" geschaffen, die in kleinsten Sportzirkeln ausgeheckt und dann als allgemein gültig dargestellt wird. (Nebenbei: Dasselbe erleben wir gerade bei den Verhandlungen über die Schiedsgerichte im Rahmen des Freihandelsabkommens TTIP).

Was hat dies aber mit dem Doping in Russland zu tun?

Sehr viel. Nach der ARD-Dokumentation ließ die FAZ viele Stimmen zum Thema Athletenrechte zu Wort kommen. Und sie fragte: "Wo bleibt der Schmerzensschrei?" Gedacht war wohl an einen Aufschrei des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) oder gar von Thomas Bach, dessen Präsidenten? Nein, so naiv schätze ich die FAZ nicht ein, dass sie glaubte, dass "unser" Thomas Bach wegen eines solchen Filmchens auch nur einen Laut von sich geben würde. Er leitete es an seine Ethikkommission weiter.

Ein kleiner Rückblick sei an dieser Stelle gestattet. Die FAZ hatte, gemeinsam mit der "Süddeutschen Zeitung" und der "Stuttgarter Zeitung", in den 90er-Jahren den Tübinger Soziologen Helmut Digel zum Präsidenten des Deutschen Leichtathletikverbands hochgeschrieben. Es waren namentlich drei Akteure: Hans Joachim Waldbröl (FAZ), Thomas Kistner (SZ) und Josef-Otto Freudenreich (StZ). Der eine hat sich um die Gesundheit geschrieben, der zweite arbeitet sich heute noch an Fifa-Präsident Josef Blatter und Thomas Bach ab, und der dritte hat seine eigene Kontext:Wochenzeitung gegründet.

Ex-DLV-Chef Digel sorgt für den Blick zurück in die Zukunft

Und Digel? Neulich hat er es tatsächlich geschafft, in den wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Handballbunds aufgenommen zu werden. Dort sorgt der 70-jährige Wissenschaftler für den notwendigen Blick zurück in die Zukunft. Oder so ähnlich. Sein einstiges Hauptthema war damals: der Antidopingkampf. An seiner Seite brauchte man einen bekannten Athleten. Dieser Athlet war ich. Auch hier bitte ich, mich nicht falsch zu verstehen. Nicht weil Digel und die Pressevertreter es so wollten, nahm ich die Rolle an, sondern weil ich davon überzeugt war und bin, dass Sport nur ohne Doping Sport ist. Heute mache ich Unterhaltung, Comedy und Kabarett. Erreicht haben wir im Antidopingkampf nichts.

Und jetzt, knapp 20 Jahre später, wird von der FAZ händeringend nach einem Kämpfer für Athletenrechte gesucht: Ein Aufschrei müsse kommen von den Athleten. Und das fordert ausgerechnet die FAZ, die im Kampf gegen Doping die Rechte der Athleten immer gering geachtet hatte. Egal, ob das internationale Sportgericht Cas ein echtes Schiedsgericht ist (was es noch nie war), ob eine vierjährige oder gar lebenslängliche Dopingsperre verfassungswidrig ist oder ob die Anwendung der strict liability rule (verantwortlich für das, was im Körper ist, ist der Athlet – Beweislastumkehr) zur deutschen Gesetzeslage passt, immer wurde das Ende des Antidopingkampfs herbeibeschworen, um damit alle Argumente im Keim zu ersticken.

Heute ist alles anders. Jetzt fordert die FAZ in einem Kommentar zu den russischen Dopingenthüllungen: "Allein staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und ordentliche Gerichtsbarkeit wirken über den Tellerrand des Sports hinaus." Wie? Jetzt auf ein Mal sollen es staatliche Gerichte richten? Und ja, ich finde diese Wendung überfällig. Und das Blatt legte nach. Der bekannte Dopingforscher Simon Perikles durfte in einem brillanten Artikel mit dem Titel "Das ist schlimmer als Pornografie" einen Weckruf an die Athleten formulieren. Und dann kam der Auftritt von Robert Harting. Er wurde in die neue, seit 15 Jahren unbesetzte Rolle des Antidoping- und Athletenrechtekämpfers gesteckt.

Ich kann mich noch gut an die Szene erinnern, als mich der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) zu einem Gespräch eingeladen hatte. Mich als den einzig von SZ, FAZ und StZ sowie DLV-Präsident Digel erkorenen Antidopingkämpfer. Durch einen Stau in Leonberg – ja den gab es damals auch schon – kam ich zu spät nach Bonn. Aber ich erlebte noch, wie Schily den ausgestreckten Zeigefinger auf mich und jeden einzelnen der anwesenden Athleten richtete und fragte, ob ich und alle anderen der Meinung seien, dass die strict liability rule in Deutschland bei einer positiven Probe angewendet werden sollte. Sprich: Positive Probe ist gleich Sperre. Verantwortlich sind immer die Athleten. Als juristisch Ahnungsloser und mit großer Naivität sagte ich Ja. Heute würde ich Nein sagen.

Nun also Robert Harting. Ich darf ihn zu seiner neuen Rolle beglückwünschen, wenngleich sie für ihn ungewöhnlich ist. Noch 2009 hat er die Freigabe von Dopingmitteln gefordert, relativierte den Vorstoß später mit der Aussage, er sei falsch verstanden worden. Gleichzeitig verbat er sich jede Kritik an seinem Trainer Goldmann, der ein schwer belasteter Trainer aus DDR-Zeiten war. Eine Aktion der Dopingopfer der DDR, die während der WM in Berlin Pappbrillen verteilten, um auf die weiter im Dunkeln stattfindende Manipulation aufmerksam zu machen, kommentierte Harting so: "Wenn der Diskus aufkommt, soll er gleich gegen die Brillen springen, damit die wirklich nichts sehen."

Aber auch ein Harting kann dazulernen, und deshalb nehme ich ihm seinen Ärger über die Verhältnisse in Russland ab, und ich glaube auch, dass er sauber ist. Ja, ich bin immer noch der Meinung, dass Weltklasseleistungen auch ohne Manipulation möglich sind. 

In der ARD-Dokumentation erfahren wir, dass Athleten Kontrolleure kaufen können, Schweigegeld bezahlen und positive Blutwerte gegen Geld verschwinden lassen können. Ein korruptes System, das einerseits Druck auf die Athleten ausübt und auf die Angst der Entdeckung setzt. Wer sind die Drahtzieher? Der russische Leichtathletik-Präsident Walentin Balachnitschew scheint mittendrin zu stecken. Er ist auch Schatzmeister des Internationalen Leichtathletikverbands (IAAF), unterstützt von einem guten Geschäftspartner, dem Sohn des Präsidenten der IAAF, Papa Massata Diack. Der wiederum ist dem Russen bei der Bewerbung für die Leichtathletik-WM 2013 in Moskau als Berater zur Seite gestanden.

Die FAZ.net berichtet am 11. 12. 2014: "Diack junior wird wie Balachnitschew damit in Verbindung gebracht, dass die russische Marathonläuferin Lilija Schobuchowa mit der Zahlung von 600 000 Dollar eine Dopingsperre während der Olympischen Spiele 2012 in London vermied. Als 2014 eine Sperre wegen ihrer Blutwerte nicht mehr verhindert werden konnte, erhielt sie über einen Absender in Singapur 400 000 Dollar zurück. Diack junior hat bestätigt, dass der Eigentümer der inzwischen aufgelösten Briefkastenfirma ein Geschäftspartner sei." 

Das hat doch was. Schutz- beziehungsweise Schweigegeld wird im Falle von Erfolglosigkeit wieder zurückgezahlt. Da gewinnt Fair Play im Sport nochmal eine ganz andere Bedeutung. Aber gibt es das nur in Russland?

Jetzt muss Robert Harting den Kopf hinhalten

Offensichtlich hatte die Wada schon seit Monaten Kenntnis von den Vorgängen. Geschehen ist nichts. Nun, die FAZ wartet auf den Aufschrei des Sports, der Athleten und hat einen gefunden, der den Kopf hinhält: Robert Harting.

Und der hat zu Recht Angst. Denn alles hängt miteinander zusammen. Jeder kennt jeden, jeder ist mit jedem verbandelt. Nur wenige Menschen lenken den Weltsport. Die Korruption hat offensichtlich (fast) alle Bereiche erfasst. Ja, kriminelle Energien gibt es überall, so einfach ist das. Vor allem aber gibt es sie dort, wo es keine staatliche Kontrolle gibt. Der Sport, die Politik und die Medien haben mit ihrem Rufen nach einer Sonderbehandlung des Sports und dem ewigen Heraufbeschwören – "es ist das Ende des Antidopingsystems" – dafür gesorgt, dass es so weit kommen konnte.

Umso mehr brauchen wir staatliche Kontrolle, denn Sportverbände sind nichts anderes als Monopolisten im Weltmarkt. Sie möchten ihre Werbegewinne maximieren. Sie bestimmen die Regeln, sie stellen die Richter und halten ihr eigenes Regelwerk nicht ein. Das ist auch kein Wunder, denn sie müssen niemanden und nichts fürchten. Athleten, die sich abseits der Bahn beziehungsweise des Platzes melden, stören nur. Alles andere, die Werte des Sports, die pädagogische Wirkung, der Antidopingkampf ist im Grunde "Feigenblattgedöns".

Nun sei mir noch ein Rückblick gestattet, einfach weil mir alles so bekannt vorkommt. Harting hat also Angst vor einem Anschlag. Der Chef der Zeitschrift "Laufzeit", Wolfgang Weising, der zu DDR-Zeiten für die NVA-Zeitung "Volksarmee" arbeitete, suchte 1998 scherzhaft oder drohend, je nach Sichtweise, einen Messias der Antidoping-Bewegung. Es ging damals um die Aufarbeitung der DDR-Dopinggeschichte. Er schrieb in der "Laufzeit", ein Jahr vor meinem positiven Test: "Wer im Glashaus sitzt, werfe den ersten Stein." Und er beendete den Kommentar mit dem Satz: "Muss man sich angesichts morgendlicher Hochform eines Tages fragen: Ist meine Zahnpasta noch sauber?" Also lieber Robert Harting – Vorsicht beim Zähneputzen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Peter S.
    am 06.02.2015
    Antworten
    Ja, ich bin der Meinung, dass Herr Baumann hier der Richtige ist.
    Und da ich, wie im lesenswerten Artikel von Josef-Otto Freudenreich steht, auch glaube, dass Herr Baumann weder ein Idiot noch schizophren ist, glaube ich das sogar ganz fest.
    Den weniger Gläubigen rate ich sich die 100.000 Mark zu…
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