Es ist fast Mitternacht, als sich Jens Rohde auf Schleichwegen dem Bahnhof nähert. Eine seltsame Ruhe liegt über der Station, nirgends ist ein Mensch zu sehen. Nur die Schritte seiner zwei Freunde hört er hinter sich. Selbst für diese Uhrzeit ist diese Stille ungewöhnlich. Keine rangierenden Züge, kein Betrunkener, der Richtung Heimat torkelt. Die Jugendlichen wissen nicht, dass die Polizei den Bahnhof weiträumig abgeriegelt hat. Aber instinktiv entscheiden sie sich, auf den angrenzenden Güterbahnhof auszuweichen.
Unbemerkt gelangt das Trio auf das Gelände, versteckt sich in einem Transportwagon voller Briketts. Mucksmäuschenstill liegen sie im Waggon, stundenlang. Regen und Kohlenstaub dringen durch die Kleidung, die Jungs verlieren jedes Zeitgefühl.
Doch dann ein Rattern, das immer lauter wird, quietschende Bremsen, und der Zug ist da. Wie auf Kommando sprinten sie los, einhundert Meter liegen vor ihnen. Jens Rohde erreicht als Erster die grünen Wagen, rüttelt an einer Tür bis die sich öffnet. "Wir fahren auch mit", sagt er zu den erstaunten Passagieren und lässt sich erschöpft auf einen freien Platz fallen.
Fünf Stunden vor diesem Coup sitzt Jens Rohde vor seinem Fernseher und schaut zu, wie die Träume der anderen Wirklichkeit werden. Er hört ohrenbetäubenden Jubel, sieht Menschen, die sich umarmen, vor Freude weinen. Es ist der 30. September 1989. Vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag hatte Außenminister Hans-Dietrich Genscher kurz vor 19 Uhr erklärt, dass die rund 4000 DDR-Bürger, die auf das Gelände der diplomatischen Vertretung geflüchtet sind, in die BRD ausreisen können. Jens Rohde wünscht sich nichts mehr, als dort zu sein. Von seinem Haus in Reichenbach im Vogtland bräuchte er drei Stunden bis zur Botschaft. Doch Prag ist unerreichbar für den 19-jährigen Sachsen.
Seit Wochen verlassen Tausende seiner Landsleute die DDR. Viele Ostdeutsche hatten die Hoffnung aufgegeben, dass die SED-Führung dem Vorbild von Michael Gorbatschow folgt, der die sowjetische Gesellschaft erneuert. Deshalb klettern in diesem Sommer täglich Menschen über die Zäune der westdeutschen Botschaften in Warschau, Budapest und Prag.
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