KONTEXT:Wochenzeitung
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In vollen Zügen Richtung Freiheit

In vollen Zügen Richtung Freiheit
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 Fotos: Christoph Püschner 

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Datum:

Vor 25 Jahren flüchteten Tausende DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in Prag. Nach langen Verhandlungen durften die Menschen mit Sonderzügen Richtung Westen ausreisen. Am 5. Oktober 1989 trifft der erste Zug am Hauptbahnhof im oberfränkischen Hof ein. Eine Geschichten über drei Zeitzeugen, die hautnah dabei waren.

Es ist fast Mitternacht, als sich Jens Rohde auf Schleichwegen dem Bahnhof nähert. Eine seltsame Ruhe liegt über der Station, nirgends ist ein Mensch zu sehen. Nur die Schritte seiner zwei Freunde hört er hinter sich. Selbst für diese Uhrzeit ist diese Stille ungewöhnlich. Keine rangierenden Züge, kein Betrunkener, der Richtung Heimat torkelt. Die Jugendlichen wissen nicht, dass die Polizei den Bahnhof weiträumig abgeriegelt hat. Aber instinktiv entscheiden sie sich, auf den angrenzenden Güterbahnhof auszuweichen.

Unbemerkt gelangt das Trio auf das Gelände, versteckt sich in einem Transportwagon voller Briketts. Mucksmäuschenstill liegen sie im Waggon, stundenlang. Regen und Kohlenstaub dringen durch die Kleidung, die Jungs verlieren jedes Zeitgefühl.

Doch dann ein Rattern, das immer lauter wird, quietschende Bremsen, und der Zug ist da. Wie auf Kommando sprinten sie los, einhundert Meter liegen vor ihnen. Jens Rohde erreicht als Erster die grünen Wagen, rüttelt an einer Tür bis die sich öffnet. "Wir fahren auch mit", sagt er zu den erstaunten Passagieren und lässt sich erschöpft auf einen freien Platz fallen.

Fünf Stunden vor diesem Coup sitzt Jens Rohde vor seinem Fernseher und schaut zu, wie die Träume der anderen Wirklichkeit werden. Er hört ohrenbetäubenden Jubel, sieht Menschen, die sich umarmen, vor Freude weinen. Es ist der 30. September 1989. Vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag hatte Außenminister Hans-Dietrich Genscher kurz vor 19 Uhr erklärt, dass die rund 4000 DDR-Bürger, die auf das Gelände der diplomatischen Vertretung geflüchtet sind, in die BRD ausreisen können. Jens Rohde wünscht sich nichts mehr, als dort zu sein. Von seinem Haus in Reichenbach im Vogtland bräuchte er drei Stunden bis zur Botschaft. Doch Prag ist unerreichbar für den 19-jährigen Sachsen.

Seit Wochen verlassen Tausende seiner Landsleute die DDR. Viele Ostdeutsche hatten die Hoffnung aufgegeben, dass die SED-Führung dem Vorbild von Michael Gorbatschow folgt, der die sowjetische Gesellschaft erneuert. Deshalb klettern in diesem Sommer täglich Menschen über die Zäune der westdeutschen Botschaften in Warschau, Budapest und Prag.

Vor allem in der tschechoslowakischen Hauptstadt spielen sich dramatische Szenen ab. Der sozialistische Nachbarstaat ist das einzige Land, in das DDR-Bürger ohne Visum reisen dürfen. Schon bald sind die Räume der Botschaft völlig überfüllt. Hermann Huber, damals oberster Bonner Diplomat in Prag, lässt im Botschaftspark Zelte und Toiletten aufstellen, organisiert Schlafsäcke und warme Kleindung. Das DRK schickt Ärzte, die Bundeswehr eine Feldküche. Währenddessen verhandelt Genscher mit seinem sowjetischen Amtskollegen. Am Rande der UN-Vollversammlung in New York finden beide Politiker einen Kompromiss, dem schließlich auch die DDR zustimmt. Damit Ostberlin den Anschein einer geordneten Ausreise wahren kann, sollen die Flüchtlinge mit Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn über DDR-Territorium in den Westen fahren.

In Plauen war Endstation

Als um 20.50 Uhr der erste Zug Prag verlässt, ist Jens Rohde auf dem Weg in die Diskothek. Seine Gedanken kreisen um die Bilder aus der Botschaft – und um seine missglückte Flucht zwei Jahre zuvor. Schon 1987 hatte er genug von der DDR. "Mich hat diese ständige Bevormundung gestört", sagt er. Doch in Plauen war Endstation. Noch im Zug verhafteten Volkspolizisten die Jugendlichen, verhörten sie die ganze Nacht. "Verdacht auf Republikflucht". Beweisen konnten die Polizisten das nicht, und deshalb mussten sie das Trio laufen lassen. Aber seinen Personalausweis war Jens Rohde los. Dafür bekam er einen vorläufigen Pass, mit dem er seinen Heimatbezirk nicht verlassen durfte. Eine Reise nach Prag? Ausgeschlossen.

Im Tanzlokal wartet sein Freund auf ihn, und der hat Neuigkeiten: "Die Züge werden über Reichenbach nach Hof fahren", berichtet sein Kumpel. Der junge Mann arbeitet im Stellwerk. Deshalb weiß er auch, dass die Oberleitungen in Reichenbach enden und die Elektrolokomotive gegen eine Diesellok ausgetauscht wird. Der Zug muss im Bahnhof anhalten. "Eine einmalige Chance", sagt der Freund. "Ich bin dabei", sagt Jens Rohde. Schnell verlassen sie den Club, wecken den Dritten im Bunde, laufen zum Bahnhof.

Und nun sitzen die drei bereits eine halbe Stunde im stehenden Zug. Jens Rohde wird unruhig. "Ihren Ausweis, bitte", sagt plötzlich eine Stimme von oben. Die gehört einem Stasimann, der mit seinen Genossen in Reichenbach zugestiegen ist, um die Pässe der Ausreisewilligen einzusammeln. Sieht er das Behelfsdokument von Jens Rohde, dürfte ihm klar sein, dass der junge Mann nicht aus Prag kommt. "Den habe ich schon Ihrem Kollegen gegeben", sagt Rohde und hofft, dass der Geheimdienstler weder diese Lüge noch seine schmutzig-nasse Kleidung bemerkt. Es funktioniert. Der Stasimitarbeiter wendet sich an den nächsten Fahrgast, kurz darauf geht es weiter.

Am Sonntagmorgen, 6.14 Uhr, trifft der Sonderzug in Hof ein. 1200 DDR-Flüchtlinge verlassen müde, aber überglücklich die Wagen. Unter ihnen Jens Rohde. Nicht weit von ihm, etwas abseits des Trubels, kämpft Robert Knieling mit den Tränen. Eine schlaflose Nacht liegt hinter dem stellvertretenden Leiter des Hofer Hauptbahnhofs. Jetzt überwältigt ihn die Ankunft der Ostdeutschen. Erst am Vortag war der 50-Jährige aus dem Urlaub zurückgekehrt. Seine Koffer stehen noch im Flur, als ihn die Kollegen zum Bahnhof rufen. Dort wartet bereits ein Krisenstab aus Polizei und Bundesgrenzschutz. Robert Knieling muss für die Sicherheit von sechs Zügen mit insgesamt 6000 DDR-Bürgern sorgen. Bis zum Morgen koordiniert er Stellwerker, Fahrdienstleiter, Rangierer, lässt die Kantine zum Ruheraum umbauen, unterstützt THW, Diakonie und DRK. Sonntagnachmittag sind alle Flüchtlinge versorgt, und Robert Knieling freut sich auf ein paar Stunden Ruhe.

Er freut sich zu früh. Am Montagmorgen strömen wieder Hunderte Menschen in die Prager Botschaft. Bei Robert Knieling meldet sich ein Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn, erklärt, dass die DDR so schnell wie möglich ihre Züge wiederhaben will, mit denen die Dissidenten bis Hof fahren. Damit auf dem Bahnhof kein Chaos entsteht, die Flüchtlinge zu ihren Verwandten oder in die Erstaufnahmelager weiterfahren können und auch der fahrplanmäßige Betrieb funktioniert, braucht er rasch zusätzliche Züge. Robert Knieling telefoniert mit dem Innenministerium, dann mit dem Verkehrsministerium. Anschließend ordert er in Süddeutschland, Österreich und Italien einhundert Waggons, die im Güterbahnhof auf eine Länge von zweieinhalb Kilometern aneinandergereiht wurden. "Der Güterverkehr musste für eine Woche eingestellt werden", erinnert er sich.

Die Welt endet nicht an einer Grenze

Knapp 200 Kilometer nordöstlich, in Dresden, gerät die Situation allmählich außer Kontrolle. In den Morgenstunden des 3. Oktober versammeln sich Tausende Ausreisewillige um den Bahnhof, nachdem bekannt wurde, dass die Züge durch die Elbmetropole fahren. "Wir wollen raus", rufen die Menschen. Auch Markus Rindt möchte weg. "Schon als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Welt an einer Grenze endet", sagt er. Ein Jahr zuvor waren die Eltern seiner Freundin nach einer Geburtstagsfeier bei Verwandten in Köln geblieben. Für den 22-jährigen Musikstudenten, der gerade erst eine feste Stelle als Solohornist an der Landesbühne Sachsen angetreten hatte, und seine Freundin war klar, dass sie folgen würden.

Am Montagmorgen kurz nach halb sechs packt Markus Rindt Zelt, Schlafsäcke und Campingkocher ein und verabschiedet sich von seiner Mutter. Dann fährt sie der Vater mit seinem alten Skoda bis kurz vor die tschechoslowakische Grenze. Nach der ersten Ausreisewelle werden die Züge nach Prag scharf überwacht. Deshalb tarnt sich das Paar als Rucksacktouristen. Zu Fuß passieren sie die Kontrollstelle, nehmen den Bus Richtung Prag und erreichen gegen elf Uhr die Botschaft. Etwa 8000 DDR-Bürger befinden sich am 3. Oktober in und außerhalb der Vertretung. Für sie kommt am folgenden Abend die erlösende Nachricht: Auch ihre Ausreise wurde genehmigt.

Stunden später sitzen die beiden Dresdner im Zug. Als sie die DDR durchqueren, schaut Markus Rindt aus dem Fenster. Gespenstisch leere Bahnhöfe ziehen an ihm vorbei, menschenleere Dörfer, verlassene Straßen. Immer wenn Laternen die Welt außerhalb des Zuges in ein blasses Licht tauchen, sieht er die Umrisse der Soldaten, die mit Hunden die Gleise abschirmen, an Bahnübergängen patrouillieren oder Straßenkreuzungen sperren. Die DDR-Behörden wollen verhindern, dass Menschen auf die Züge springen. Trotzdem kommt es in Dresden in dieser Nacht zu Ausschreitungen. In den Morgenstunden des 5. Oktobers erreicht das Paar Hof. "Es war wie auf einem Volksfest", beschreibt Markus Rindt die Stimmung auf dem Bahnsteig. Am Ende dieses Tages werden weitere 8000 Menschen der DDR den Rücken gekehrt haben. Am 9. November ist die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten endgültig offen.

25 Jahre danach: Es ist Anfang Juli 2014, Markus Rindt sitzt in einem Café im Berliner Tiergarten, lässt die Vergangenheit noch einmal Revue passieren. Nach seiner Flucht zog er nach Köln und begann erneut Musik zu studieren. 1996 kehrte er in seine Heimatstadt zurück, gründete mit Freunden die Dresdner Sinfoniker. Als Intendant des Ensembles tourt Markus Rindt bis heute durch die Welt. Robert Knieling wurde 1997 nach 41 Dienstjahren bei der Bahn pensioniert. In diesen Tagen hat er seine Erlebnisse am Hofer Hauptbahnhof aufgeschrieben "Die Ankunft der DDR-Bürger war das wichtigste Ereignis in meiner Laufbahn", sagt der 75-Jährige. Jens Rohde wundert sich, dass plötzlich so viele Menschen seine Geschichte hören möchten. Kürzlich habe sogar die Lehrerin seines Sohnes gefragt, ob er vor der Klasse von seiner Flucht erzählen könne. Seit 1993 wohnt er wieder in Reichenbach. "Die Grenze war offen", sagt Jens Rohde, "also konnte ich nach Hause gehen."


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