Wir waren eine absolut abgebrühte Familie. Erschüttern konnte uns nichts mehr. Wir hatten ausreichend Tote in jedem Zustand und in jedem Alter gesehen, wir hatten Blut und Gift und Galle gespuckt, Gas gerochen, wir waren zwischen alle Schusslinien geraten, haben uns rausgebuddelt aus Bunkern und Kellern, haben gelogen, gestohlen und betrogen, wo es ging, mussten sehen, wie die Zwangsarbeiter mit dem Ochsenziemer bestraft und die Mütter vergewaltigt wurden, auch die eigene, wir sahen die Elbe brennen und die Menschen ins Wasser rennen, wir sahen die Bombengeschwader im Anflug und die weißen Fahnen in den Fenstern....
Die aus dem Osten rollenden Flüchtlingszüge, in denen wir kauerten, hielten tatsächlich in irgendwelchen Lagern, die auch früher irgendwelche Lager waren, und dann wurden wir erst einmal kahl geschoren, Kind und Mann und Maus, bekamen eine warme Decke für die Nacht und eine Schüssel Suppe und, wenn man Glück hatte, ein paar neue Klamotten.
Wir waren im neuen Deutschland, jetzt konnte es nur noch besser werden. Tambach-Dietharz im Thüringer Wald hatte Glück – wir wurden dort zugewiesen. Manche waren nur Flüchtlinge, andere nur Heimatvertriebene. Wieder andere waren nur Reichsdeutsche oder nur Evakuierte oder Umsiedler. Oder Ausgebombte. Wir waren alles. Darauf waren wir stolz als Kinder.
Schlepper sprachen die Flüchtlinge an
Am Rande der Alb saß der Vater in einem kleinen Zimmer in Zwiefalten und schrieb in die DDR: "Die Leute hier essen Kartoffeln und Nudeln in der Brühe, alles zusammengekocht. Manchmal soll Fleisch drin sein. Gaisburger Marsch. Wenn ihr kommt, schenke ich jedem eine Banane. Sie sind sehr fromm." Alles stimmte. Wobei aber das "fromm" nichts besagte, gar nichts.
Die Mutter: "1951 türmte ich mit den beiden Jungs und dem Vater hinterher. Zuerst fuhr'n wir mit der Reichsbahn in die Nähe der Zonengrenze ..." Schlepper sprachen die Flüchtlinge an und versprachen ein sicheres Geleit über die Grüne Grenze. Eine russische Patrouille erwischte uns – doch die Russen wiesen im Tausch gegen den goldenen Ehering den richtigen Weg ins Paradies – den freien Westen ...
Zwiefalten war eine einzige Enttäuschung. Kein Bahnhof. Aber ein katholisches Münster. Weit und breit keine Bananen. Stattdessen zu viert in einem Zimmer. Nebenan die Verrückten der Heil- und Pflegeanstalt.
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Peter Grohmann
am 23.10.2013Werastraße 10, 70182 Stuttgart, oder den diversen Lesungen bezogen werden. Gegen einen Aufpreis von 10 Cent mit live-Signatur des Autors.
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