Christina Frank, kurzes, wie elektrisiert hochstehendes Haar, Schnellrednerin und Energiebündel, ist Gewerkschaftssekretärin und so etwas wie der Schutz- und Racheengel der Ex-Verkäuferinnen im Schlecker-Imperium. Die Stuttgarter Verdi-Frau kämpfte einst bei Schlecker für Tarifverträge, Betriebsräte und anständige Arbeitsbedingungen. Später, als die Drogeriemarktkette Pleite ging, beim Insolvenzverwalter dafür, dass ihre Frauen nicht leer ausgingen. Und noch später bei der Arbeitsagentur für eine anständige Behandlung der arbeitslosen Frauen. Doch weil die meist älteren Verkäuferinnen nur schlecht bezahlte oder gar keine Angebote bekamen, überlegte sie sich mit Verdi neue Wege.
Aus der Idee könnte ein Exportschlager Made in Baden-Württemberg werden
Als Gewerkschafterin weiß Christina Frank, welche der Schlecker-Läden gute Umsätze machten. Warum also nicht ganz gezielt die ausgucken, mit den Vermietern reden und die Läden in Eigenregie übernehmen? Das sichert zum einen die örtliche Nahversorgung und schafft zugleich Arbeitsplätze für die schwer vermittelbaren Frauen. Die Bürgermeister haben das schnell begriffen, nicht nur die in Welzheim und Bietigheim. "Inzwischen bekomme ich Anfragen von Gemeinden aus ganz Deutschland", sagt Christina Frank. Aus der Idee könnte ein Exportschlager werden, made in Baden-Württemberg.
Christina Frank hat einen Verein zur Förderung der Nahversorgung gegründet, dessen Vorsitzende sie ist, als Dach für die einzelnen Läden, sieben sind es inzwischen in Baden-Württemberg. Dieser Verein koordiniert vom Kassensystem über die Lieferanten alle gemeinsamen Aktivitäten und organisiert Bürgerversammlungen, um für die Idee des Tante-Emma-Ladens im Ort zu werben. In Stetten am kalten Mark hat der Musikverein eine Probe abgesagt und kam geschlossen zur Versammlung, um für den Dorfladen zu demonstrieren und allen Verhinderern den Marsch zu blasen. Der Name ist inspiriert von Herbert Grönemeyers WM-Song "Zeit, dass sich etwas dreht".
Für Christina Frank heißt Drehpunkt: Gespräche mit Vermietern und Gemeinden, zähe Verhandlungen mit Banken, Trost für die Frauen, wenn es mal wieder nicht voran geht mit der Finanzierung. Die 57-jährige Gewerkschafterin fühlt sich für ihre Schleckerfrauen verantwortlich. Wenn die engagierte Kämpferin etwas anpackt, sind ihr Achtstundentage ebenso schnurz wie die Hierarchie bei Verdi, weshalb sie im eigenen Haus nicht von allen geliebt wird. Von den Schleckerfrauen dafür umso mehr. Dann bringt schon mal eine Pralinen mit in Franks Gewerkschaftsbüro, dessen Türen immer offen stehen, und überreicht sie mit den Worten: "Weil du abgehst wie Schmidts Katze."
Tierische Power und Hartnäckigkeit
Über diese tierische Power sind auch die Welzheimer Drehpunkt-Frauen froh. Ohne den Trost von Christina Frank hätten sie die lange Wartezeit bis zur Fiinanzierung nicht durchgestanden. Dabei wollen die drei vom Welzheimer Drehpunkt endlich ihre Ideen umsetzen. Das wissen auch ihre Kolleginnen in Bietigheim. Früher haben sie konkurriert um das beste Ergebnis, heute arbeiten die Schleckerfrauen zusammen, um alle Läden zum Laufen zu bringen. "Gehen Sie nach Welzheim", sagt Marina Juhrich, "die sind super kreativ."
An diesem sonnigen Wochenende stehen die kreativen Welzheimerinnen auf dem Frühlingsmarkt des Luftkurorts. Sie wollen ihren Kunden und Unterstützern zeigen, dass sie nicht aufgegeben haben. Die Sonne scheint auf die hübsch verpackten Duschartikel und die Färbemittel, die die Frauen aus dem eigenen Geldbeutel bezahlt haben, damit sie beim Frühlingsmarkt wenigstens eine Kleinigkeit zu verkaufen haben. Die Luftballons für ihren Stand haben sie aus Erdmannhausen geholt, dem Drehpunkt-Pilotprojekt, manche Tipps von den Bietigheimer Frauen. Sie helfen und sie unterstützen sich. Auch das hat sich geändert seit Schlecker, wie so vieles in ihrem Leben.
In ihrer Zeitrechnung gibt es vor und nach Schlecker
Mitte April schon sollte der neue Drehpunkt in Welzheim aufmachen, der WDR hatte sich schon angekündigt. Doch sie mussten dem Fernsehteam absagen. "Wann macht ihr endlich auf?", fragen die Flaneure auf dem Frühlingsmarkt. Und die Frauen erklären immer wieder dasselbe. "Ich könnte hier eine Platte auflegen", scherzt Martina Bareiss, trotz allem guter Dinge und schlagfertig, die zweite im Welzheimer Bunde. Martina Bareiss, 51, Conny Heizenröther, 47, und Lea Weiss, 23, tragen heute alle Schattierungen von grün. "Komisch, seit wir die Idee mit dem Drehpunkt haben, finde ich sogar noch Schuhe, die grün sind", sagt Conny Heitzenröther und zeigt auf ihre Sneakers.
Sie wollen einen Lieferservice einrichten für das örtliche Altenheim und für alte Mitbürger, die nicht mehr selbst einkaufen können. Im Laden selbst sollen örtliche Anbieter einen Stand mieten können, um dort ihre Produkte zu verkaufen. Und auch eine Sitzecke für Ältere und eine Spielecke für Jüngere haben die Welzheimerinnen geplant. Das alles erzählen sie beim Frühlingsmarkt. "Aber vor allem stehen wir hier, damit ihr seht, dass wir nicht mit euren Stützlis abgehauen sind", sagt Martina Bareiss und zwinkert. Die Zuhörer lachen.
Die Stützlis sind silberne Münzen, eine für 50 Euro. Sie sind eine Art zinsloses Darlehen, womit die Kunden nach drei Jahren in den Drehpunktläden einkaufen können. Abgeordnete haben schon welche gekauft, aber ansonsten sei die Unterstützung durch die Politik ausbaufähig, wie es Christina Frank in einer seltenen Anwandlung von Diplomatie ausdrückt. 80 Stützlis haben die Welzheimerinnen gesammelt, 100 die Frauen aus Bietigheim, das bedeutet 4000 Euro beziehungsweise 5000 Euro Anschubfinanzierung. Rührende Szenen spielen sich bei den Bürgerversammlungen ab. Eine blinde Frau kommt vorbei, um einen Stützli zu erstehen, damit sie auch weiterhin im Ort einkaufen kann.
Im Welzheimer Häkelkreis, wo Conny Heitzenröther und Martina Bareiss für ihren Laden warben, haben die Frauen gesammelt und das Geld zusammen geworfen, weil für Rentnerinnen 50 Euro nicht einfach so aus der Portokasse zu bezahlen sind. Am Schluss konnten sie sogar drei Stützlis kaufen. Die drei Frauen am Stand können viele dieser Geschichten erzählen. Sie brauchen sie, damit ihnen der Atem nicht ausgeht. Inzwischen haben sie die Bürgschaft in der Tasche und können den alten Schleckerladen gegenüber der Welzheimer Kirche renovieren. "Endlich", stöhnt Martina Bareiss erleichtert.
In ihrer Zeitrechnung gibt es vor und nach Schlecker. Egal ob in Bietigheim, Erdmannhausen oder in Welzheim, aber auch bei der Gewerkschaft verdi in Stuttgart. Sie mögen alle schlecht schlafen. Christina Frank in Stuttgart, weil die Gewerkschaftssekretärin unablässig über Bürgschaften nachdenkt, wie sie den Banken Dampf machen kann, und danach wie Dagobert Duck von seinen Talern von ihren Stützlis träumt. Marina Juhrich in Bietigheim, weil sich nachts das Gedankenkarussell um Kredite, Kassensysteme und Lieferverträge besonders schnell dreht.
Doch ganz gleich, ob man das Pilotprojekt in Erdmannhausen besucht, in Bietigheim vorbeischaut oder mit den Welzheimer Frauen spricht: Es ist weniger die Angst, die den Schleckerfrauen den Schlaf raubt als vielmehr die Aufregung, etwas Neues, eigenes zu machen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, etwas zu wagen. "Wir sind von Schleckerfrauen zu Kampfweibern geworden", sagt Marina Juhrich und blinzelt angriffslustig über ihre Lesebrille, "jetzt starten wir durch."
Wer die kämpferischen Schleckerfrauen unterstützen will, kann spenden. Und zwar an: Institut für Nahversorgung e.V. Konto: 835 665 003 Volksbank Ludwigsburg, BLZ 604 901 50
2 Kommentare verfügbar
Andreas Esch
am 22.05.2013Korrekturhinweis am Rande: Röslers Fast-Unwort heißt "Anschlussverwendung", nicht "Anwendungsverwendung" (was auch ziemlich tautologisch wäre).
Solch ein Menschenbild kommt wohl - je nach Veranlagung und Charakter - davon, wenn…