Gerne verweist der Ministerpräsident dabei auf seine Lieblingsdenkerin Hannah Arendt und macht mit seiner Argumentation laut Umfragen eine blendende Figur als aufrechter Demokrat, der sich gegen die eigene Überzeugung dem Mehrheitswillen beugt. Doch was da so philosophisch-ethisch daher kommt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine bizarre Karikatur zeitgenössischer Demokratie- und Wahrheitstheorie, für die Hannah Arendt schwerlich als Kronzeugin herhalten kann. Arendts jetzt bei Piper neu aufgelegter Aufsatz "Über Wahrheit und Lüge in der Politik" kann in weiten Teilen wie eine Abrechnung mit den Versuchen Kretschmanns gelesen werden, unbequeme Tatsachen demokratisch zu entsorgen. Zitat: Mit unwillkommenen Meinungen kann man sich auseinandersetzen, man kann sie verwerfen oder Kompromisse mit ihnen schließen; unwillkommene Tatbestände sind von einer unbeweglichen Hartnäckigkeit, die durch nichts außer der glatten Lüge erschüttert werden können.
Abstimmung über die Wahrheit
Kretschmann begründet seine Wahrheitsskepsis immer wieder mit den Lehren, die er aus seiner Vergangenheit beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) gezogen habe. Als Maoist habe er sich letztmals im Besitz einer absoluten Wahrheit gewähnt – und schlägt dann einen kühnen Bogen vom Kommunismus zum Kopfbahnhof. In der Demokratie müsse man sich nicht nur von totalitären politischen Wahrheiten, sondern auch von der vermeintlichen Objektivität wissenschaftlicher, ja auch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verabschieden. Die Fakten-Schlichtung zu Stuttgart 21 unter Heiner Geißler beschreibt er als verwirrendes Einerseits-Andererseits der Gutachter. Den Streit über Gleisbelegungen und Grundwasser erlebt er als Kakophonie von in sich einleuchtenden, aber widersprüchlichen Wahrheiten. Letztlich könne man sich nicht rational im Diskurs auf eine vorläufige "Wahrheit" verständigen, sondern nur demokratisch über verschiedene Positionen entscheiden, erklärte Winfried Kretschmann kurz nach seiner Vereidigung als Ministerpräsident bei einer Volksversammlung vor mehreren tausend Menschen auf dem Stuttgarter Marktplatz.
Für einen studierten Chemie- und Biologielehrer offenbart Kretschmann damit ein bemerkenswertes Wahrheitsverständnis. Seiner Logik zufolge könnte man künftig in den Klassenzimmern mit demokratischer Mehrheit über Atommodelle abstimmen. Doch die Wahrheiten der empirischen Naturwissenschaft müssen sich nicht in Wahlen, sondern im Experiment an der Realität bewähren. Ihre Ergebnisse können deshalb Gültigkeit beanspruchen, weil sie nach den Regeln wissenschaftlicher Verfahren gewonnen wurden. Zwar sind auch wissenschaftliche Wahrheiten letztlich nur fehlbare Plausibilitätsunterstellungen, aber ihre Gültigkeit kann nur um den Preis des eigenen Rationalitätsanspruchs pauschal geleugnet werden.
Kurz: 4 x 8 ist 32, darüber kann keine Volksabstimmung entscheiden, <link http: de.wikireal.org w images e ed _blank>schrieb der reichlich entgeisterte Naturwissenschaftler Christoph Engelhardt, als Kretschmann dessen detaillierte Kritik an den Berechnungen der Bahn über die Kapazität des geplanten Stuttgarter Tiefbahnhofs mit seinem Standardsätzchen "Es gibt keine Wahrheit in der Politik" zu entkräften suchte.
Entsorgung unbequemer Tatsachen
Von Hannah Arendt kann sich Kretschmann keine Unterstützung erhoffen bei der Entsorgung unbequemer Tatsachen. Sie verbannt zwar die philosophische Wahrheit aus dem politischen Diskurs. Die Tatsachenwahrheit dagegen sei ihrer Natur nach politisch. Darunter zählt sie unbestreitbare Sachverhalte, wie den deutschen Überfall auf Belgien im ersten Weltkrieg. Den Versuch solche Tatsachenwahrheiten im demokratischen Streit zu bloßen Meinungen umzudeuten, hat sie kurzerhand als eine Strategie der politischen Lüge gekennzeichnet: "Wenn der Lügner nicht über die Macht verfügt, seine Fälschung öffentlich als Wahrheit zu etablieren und daher erklärt, dies sei eben seine Ansicht von der Sache, für die er dann das Recht der Meinungsfreiheit in Anspruch nimmt", dann könne "in einer politisch ungeschulten Öffentlichkeit (...) die daraus entstehende Verwirrung beträchtlich sein. Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen, ist eine der Formen der Lüge"
Für den Ministerpräsidenten eine überaus praktische Angelegenheit. Entbindet sie ihn doch von der anstrengenden Pflicht zur Wahrheitssuche und lässt gleichzeitig den politisch-lästigen Versuch der Bürgerschaft ein "Lügenprojekt" zu entlarven ins Leere laufen. Den Protestbürgern wird so von ihrem vermeintlichen politischen Verbündeten die schärfste Waffe aus der Hand geschlagen: Der kritische Sachverstand, die fundierte Recherche unbequemer Wahrheiten, mit der man die mächtige Lobby erfolgreich herausgefordert hat. Sie wird als demokratieschädlich gebrandmarkt beziehungsweise zur bloßen Meinung relativiert. Nicht einmal mehr Züge kann man mehr objektiv zählen. Und damit auch niemanden mehr der Lüge bezichtigen, der hierzu falsche Behauptungen aufstellt.
Nur logisch deshalb, dass sich die Regierung kaum bemühte, eine objektive Grundlage für das Bahnhofsplebiszit herzustellen. Der entscheidende Fakt, dass bei S 21 weniger Züge abgefertigt werden können als im alten Kopfbahnhof, wurde unterschlagen. Eine belastbare Kostenschätzung nicht einmal eingefordert, obwohl dies laut Koalitionsvertrag Voraussetzung einer Volksabstimmung hätte sein sollen. Am Ende wurde dann nicht über ein in Kosten und Leistung fest umrissenes Projekt abgestimmt, sondern über zwei Versionen der Wahrheit – ganz im Sinne der Kretschmann´schen Demokratietheorie.
Höchst gefährlich, sagt Hannah Arendt: "Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatschen nicht garantiert ist. Mit anderen Worten: Die Tatsacheninformation spielt im politischen Denken eine ähnliche Rolle wie die Vernunftwahrheit im philosophischen Denken; in beiden Fällen inspiriert sie das Denken und hält die Spekulation in Schranken."
Volksabstimmung als Generalermächtigung
Denn wenn man erst einmal die Wahrheit verabschiedet hat, finden Streit und Demokratie keinen Halt mehr in der Wirklichkeit. Weil gar nicht klar war, welche Bahnhofsversion eigentlich zur Abstimmung stand, kann der Ministerpräsident das Votum zu einer Generalvollmacht für irgendeinen Bahnhof zu irgendeinem Preis umdeuten. Die Bahn erhält von den kritisch-konstruktiven Zugbegleitern tatsächlich einen Freifahrschein, denn für Kretschmann gibt es keine unabdingbare Forderung mehr an den Bauherrn. Der Ministerpräsident könne und werde das Projekt über keine noch so eklatante Schwäche mehr zu Fall bringen, <link http: www.baden-wuerttemberg.de de service presse pressemitteilungen pid kretschman-schreibt-offenen-brief-zu-stuttgart-21 _blank>schreibt er den Gegnern ins Stammbuch. So geht Demokratie.
Pech für den Bürger, wenn aus der kritischen Hochrechnung der einen Seite am Ende doch die offizielle Kostenrechnung wird und sich die relative Wahrheit am Ende als objektive Wirklichkeit entpuppt. Selbst dann bleibt für Kretschmann der irrige Glaube der Mehrheit Richtschnur des Handelns. So erklärte er im März in dem SWR-Magazin "Zur Sache Baden-Württemberg": "Da ist was Paradoxes passiert. Die Gegner, zu denen ich auch gehörte, haben die Kostensteigerung vorausgesagt, aber das Volk hat nicht uns geglaubt, sondern denen, die für stabile Kosten eingetreten sind und das so dargestellt haben. Insofern haben sich die Wähler klar entschieden, sie haben eben nicht uns geglaubt.
Während beim Gotthard-Tunnel nach neuer Kostenlage eine neue Abstimmung anberaumt und über den Lindauer Bahnhof binnen weniger Monate zweimal abgestimmt wurde, hält Kretschmann nichts davon, dem Bürger das Projekt unter neuen Voraussetzungen wieder zur Abstimmung vorzulegen. Kühl verweist er auf die hohen Hürden für Bürgerentscheide in der Verfassung, die die neue Regierung doch gerade zu senken angetreten war.
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Tauber
am 19.05.2013