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Erinnern, immer neu

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Es gibt nicht mehr viele Menschen, die heute noch aus eigener Erfahrung über den Holocaust, die von den Nazis versuchte Vernichtung der europäischen Juden, sprechen können. Einer, der das noch kann, und der darüber auch viel geforscht hat, war vergangene Woche im Deutschen Bundestag zu Gast. Saul Friedländer, 86 Jahre alt, berichtete darüber, wie ihn seine Eltern in ein katholisches Internat in Frankreich brachten, um ihn zu schützen, wie er dort ausbüchste, aber zurückgebracht wurde – und bei dieser Gelegenheit seine Eltern zum letzten Mal sah, die kurz danach nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Die Abgeordneten der AfD, die sich immer so gerne darüber echauffieren, dass die deutsche Geschichte auf die zwölf Jahre des Nationalsozialismus reduziert werde, verließen dabei immerhin nicht den Saal. Fremdenhass und Nationalismus sieht Friedländer "in besorgniserregender Weise weltweit auf dem Vormarsch", und schon zur Begrüßung hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) gemahnt: "Es braucht im Alltag unsere Gegenwehr gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung aller Art."

Wahre, hehre Worte. Nun gibt es Menschen, die das anders sehen. Die sich in Facebook-Chats rassistisch und menschenverachtend äußern, wie der Mitarbeiter zweier AfD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag, über den Kontext im vergangenen Jahr berichtet hat. Der Artikel ist heute nicht mehr online zu lesen, weil der betreffende Mitarbeiter vor Gericht ging und in erster Instanz Recht bekam. Kontext geht in Berufung. Am kommenden Mittwoch ist die <link https: www.kontextwochenzeitung.de medien prozess-5707.html internal-link-new-window>Verhandlung am Oberlandesgericht Karlsruhe.

Nicht nur die Pressefreiheit gerät unter Druck, wenn Rechte mehr und selbstbewusster werden, sondern auch die Freiheit der Kunst. Um zunehmenden Angriffen und Einschüchterungsversuchen von rechts zu begegnen, gab es im vergangenen November in Berlin die erste "Erklärung der Vielen", einer Initiative von Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen, die auf regionale Bündnisse setzt. Am vergangenen Freitag nun ging das baden-württembergische Pendant an die Öffentlichkeit, rund 100 Einrichtungen und Einzelpersonen haben unterzeichnet. <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne kultur-gegen-rechts-5694.html internal-link-new-window>Kontext stellt einige von ihnen vor.

Wie schnell Unfreiheit, Entrechtung und Barbarei sich in einem Staat durchsetzen können, daran erinnerte vergangene Woche der Stuttgarter Landgerichts-Präsident Andreas Singer anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zur NS-Justiz im Landgericht Stuttgart: Es sei eben nicht, so Singer, "für einige Jahre der Teufel in der Justiz eingezogen und hat persönlich Urteile gefällt. Nein, das waren Richter, die ihrer Arbeit in der Weimarer Republik viele Jahre ganz normal nachgingen". Auch deshalb müsse die Ausstellung "ein Stachel im Fleisch" gerade für Richterinnen und Richter sein. Der Umgang mit den 423 Menschen, die auf dem Gelände des heutigen Landgerichts zwischen 1933 und 1944 hingerichtet wurden, und deren Namen nun endlich auf drei Stelen vor dem Gerichtsgebäude einen Platz fanden, ist ein besonders krasser Fall von <link https: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen verschleppte-erinnerung-5170.html _blank internal-link-new-window>verschleppter Erinnerung.

Auch viele französische Widerstandskämpfer, Mitglieder der Résistance, waren in Stuttgart hingerichtet worden, und lange schien es so, als würde auch von deren Söhnen und Töchtern niemand mehr erleben, dass an sie erinnert wird. Immerhin, einige der Nachkommen waren bei der Eröffnungsfeier am vergangenen Dienstag in Stuttgart zu Gast, wurden von Justizminister Guido Wolf begrüßt, ein Grußwort für sie selbst war indes nicht vorgesehen. Tagespresse war offenbar gar nicht vor Ort, was möglicherweise auch an der <link https: www.kontextwochenzeitung.de debatte absurditaeten-der-woche-5655.html internal-link-new-window>minimalistischen Einladung des Justizministeriums lag – die Anwesenheit von Angehörigen der Ermordeten war darin mit keinem Wort erwähnt, die Reden, unter anderem die des Justizministers, ebensowenig. Das mit dem Erinnern, es ist nicht einfach.


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