So viel fein gesponnene Symbolik wie an diesem 2. Februar 2010 ist danach nie mehr. Ehe sie sich fürs Gruppenbild mit Dame feierlich die Hände reichen, lassen die Herrschaften mitten im Stuttgarter Hauptbahnhof den Prellbock Nummer 49 rausreißen, um sinnbildlich damit zu sagen: Stuttgart 21, Europas größtes Infrastrukturprojekt der Zweitausendzehnerjahre, wird ein Durchgangsbahnhof, der keine Prellböcke mehr braucht. Symbolik hin oder her: Zwei Welten, zwei grundverschiedene Wahrnehmungen gibt es damals längst. Und auch an diesem Tag.
Drinnen: 400 geladene Gäste, nach Veranstalterangaben 400, lassen danach in der kleinen Schalterhalle des Bonatzbaus die Korken knallen. Baubeginn, endlich! Nach nervtötenden 15 Jahren zwischen himmelhoch jauchzen und zu Tode betrübt sein, denn zweimal immerhin war das Projekt bereits beerdigt, das anfangs noch als das Perpetuum pecuniae gegolten hatte, weil es sich selbst finanzieren und den Steuerzahler gar nichts kosten sollte. Draußen: 3000 Demonstranten, nach Polizeiangaben 1300, skandieren "Oben bleiben" und heißen die drinnen "Lügenpack".
Heute, drei Jahre danach, hat die Prellbock-Symbolik von damals tatsächlich einen tieferen Sinn. Nummer 49 hat reichlich Schicksalsgenossen bekommen. Den Nordflügel, den Südflügel, die alte Bahndirektion, die Bäume am Nordausgang, die vor dem Wagenburgtunnel und vor allem jene im Schlossgarten: abgerissen, rausgerissen, zerstört. Und dann liegen gelassen. Denn gebaut wurde in diesen drei Jahren nichts.
Aber wir wollen fair bleiben. (Und wir wollen, dass es auch die Berliner verstehen, die 2006 mit ihrem Flughafen begonnen haben und ihn bereits 2012 beinahe eröffnet hätten, wenn nicht noch irgendeiner vier Wochen vor Inbetriebnahme bemerkt hätte, dass es keinen Brandschutz gibt. Da sind wir schon mal besser. Wir haben auch 2012 gemerkt, dass es im Tiefbahnhof keinen Brandschutz gibt, also viele, viele Jahre vor der Eröffnung!) Deshalb besser ehrlich bleiben: Es ist schon auch gebaut worden in den drei Jahren seit Baubeginn.
Erstens: das Gebäude des Grundwassermanagements im Schlossgarten, das allerdings, kaum da es fertig, bereits um die Hälfte zu klein war und seither nutzlos herumsteht, weil überdies die Genehmigung aussteht, überhaupt Grundwasser in dieser Größenordnung entnehmen zu dürfen. Zweitens: Vor dem Nordausgang wurde die Grube für das Technikgebäude gegraben, das einmal das Stellwerk des Tiefbahnhofs beherbergen soll, und dieser Tage wird darin das Fundament gelegt; falls die Grube grad nicht wieder vom Grundwasser überschwemmt ist. Und falls die Landesbank Baden-Württemberg, wie immer bei Baubewegungen in der Grube, genügend Leute auftreibt, die in der Zentrale am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz die Glasfassade stützen. Von innen. Drittens: Der Tunnelbohrmaschinenbauer Herrenknecht hat eine Tunnelbohrmaschine gebaut und pünktlich abgeliefert, die den Tunnel hinauf zum Flughafen bohren soll. Allerdings gibt es für diesen Tunnel noch offene Planänderungsverfahren und der Anschluss auf den Fildern südlich von Stuttgart ist noch nicht einmal planfestgestellt, geschweige denn genehmigt. Die Tunnelbohrmaschine musste deshalb fürs Erste eingemottet werden.
Bissle wenig, werden vielleicht die Berliner sagen, die nach drei Jahren ja schon zur Hälfte fertig waren. Aber, liebe Berliner, das müsst ihr mal begreifen: Oberirdisch kann jeder. Wir bauen 70 Kilometer Tunnels durch unsere Stadt, die außerdem in einem Kessel liegt zwischen lauter Bergen, die teilweise aus Gipskeuper sind, der gern mal aufquillt. Das muss man alles ganz gründlich planen.
Aber zurück zum Tag des Baubeginns, der sich kommenden Samstag zum dritten Mal jährt. Die fünf Herrschaften auf unserem Foto gaben nach der erfolgreichen Entfernung des Prellbocks Nummer 49 bei Sekt und Häppchen in der kleinen Schalterhalle Folgendes zu Protokoll (von links nach rechts):
Rüdiger Grube, damals wie heute Chef der Deutschen Bahn: 2019, im Jahr der Fertigstellung, werde "große Begeisterung" herrschen, und "die junge Generation wird uns einmal Danke sagen". Wolfgang Schuster (CDU), damals OB von Stuttgart: Nach 2019 könne die Stadt Brachflächen für ein modellhaftes, 80 Hektar großes Stadtquartier neu nutzen zuzüglich 20 Hektar Park. Und: "Ich lade die Gegner zum kritisch-konstruktiven Dialog über diese Chance ein." Jeanette Wopperer (CDU), damals wie heute Direktorin des Verbands Region Stuttgart (und gelernte Architektin): "Stuttgart 21 ist ein gelungenes Beispiel nachhaltiger Stadtentwicklung." Peter Ramsauer (CSU), damals wie heute Bundesverkehrsminister: "Stuttgart 21 und die Neubaustrecke nach Ulm sind ein wichtiger Beitrag für die Schiene, für die wir gar nicht genug tun können." Günther Oettinger (CDU), damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg: "Heute ist ein großer Tag für den Süden. Andere Länder beneiden uns um dieses Projekt."
Zwei Welten, zwei Wahrnehmungen. Draußen: "Lügenpack!" Drinnen Bahnchef Grube, der noch eins draufsetzt: "Große Projekte provozieren eben große Gefühle."
Die Gesamtkosten des Flughafens Berlin-Brandenburg sollten 2,83 Milliarden Euro nicht überschreiten. Derzeit werden sie einschließlich aller notwendigen Nachbesserungen auf 4,3 Milliarden geschätzt. Liebe Berliner, liebe Brandenburger! Habt euch nicht so! 4,3 Milliarden überweisen wir euch aus Baden-Württemberg im Zuge des Länderfinanzausgleichs innerhalb von anderthalb Jahren. Dafür sagt ihr gewöhnlich nicht mal Danke. Und dann schaut euch mal unsere Zahlen an!
4,1 Milliarden Euro für den Tiefbahnhof, 2,2 für die Neubaustrecke nach Ulm – das waren die Zahlen, für die Bahnchef Grube an jenem Tag des Baubeginns sogar die Hand ins Feuer zu legen bereit gewesen wäre. Allerdings wusste er, dass solches keiner der Anwesenden von ihm verlangen würde.
Denn er wusste auch, dass beide Zahlen nicht stimmten, nicht mal entfernt. Von 20 Milliarden Gesamtkosten für beides, und zwar dann, wenn's gut läuft, sprach schon am Tag des Baubeginns der damalige Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestags, Winfried Hermann. Dieser Tage gab Hermann, inzwischen Verkehrsminister in Baden-Württemberg, wieder eine Prognose ab: Fertigstellung nicht vor 2025, wenn's gut läuft. Und tatsächlich: Zug um Zug, freilich ohne Fahrplan, räumt die Bahn ein, was die Kritiker seit Jahren prophezeien. Aus 4,1 wurden so innerhalb von drei Jahren, in denen nichts geschah, immerhin 6,8 und die Neubaustrecke, auf der gleichfalls nichts geschieht, kostet inzwischen, Inflation auf einmal eingerechnet, 3,4 Milliarden Euro.
Macht zusammen, liebe Berliner, 3,9 Milliarden mehr, ohne dass ein Stein auf den anderen gesetzt wurde. Ja, stimmt, davon könntet ihr locker noch einen neuen Flughafen bauen. Aber halt nur oberirdisch. Euer Pech. Wir bauen 60 Kilometer Tunnel, durch die nie ein Güterzug fahren wird, durch ein deutsches Mittelgebirge. Kommt doch mal auf die Schwäbische Alb! Zum Skifahren, mit dem Auto aber bitte. Bahnhöfe gibt's da ja nicht (mehr) so viele.
Wieder von links nach rechts. Rüdiger Grube, 61, der Bahnchef, bekam im Dezember 2012 seinen Vertrag weit vor der Zeit und ohne Not um fünf Jahre verlängert. Wolfgang Schuster, heute 63, stellte sich im Oktober 2012 nicht zur Wiederwahl als Oberbürgermeister aus Furcht, abgewählt zu werden; er wurde im Gegenzug vom Gemeinderat zum 46. Ehrenbürger der Landeshauptstadt ernannt und noch vor seinem letzten Arbeitstag in eine Reihe gestellt mit Bismarck, Graf Zeppelin, Robert Bosch, Theodor Heuss, Richard von Weizsäcker und Manfred Rommel. Jeanette Wopperer, 44, ist seit 15 Monaten krankgeschrieben; der Regionalverband Stuttgart sieht erstaunlicherweise bisher keine Veranlassung, die Direktorenstelle neu zu besetzen. Peter Ramsauer, 58, amüsiert die Republik mit einer Idee (Autobahnmaut) über die nächste (Einführung alter Kennzeichen) bis zur jüngst gescheiterten (neues Punktesystem in Flensburg); dennoch gilt der gelernte Müller als veritabler Kandidat für die Seehofer-Nachfolge in Bayern. Und schließlich Günther Oettinger, 59, wurde von der Kanzlerin nach Brüssel befördert zum einzigen deutschen EU-Kommissar; hat das doppelte Gehalt eines Ministerpräsidenten und mehr als Merkel.
Gell, Wowi, das tut jetzt richtig weh? "Master of Desaster", jeden Abend in der" Tagesschau", Depp der Nation, Rücktrittsforderungen allenthalben, sogar in einem "Leitartikel" der "Stuttgarter Zeitung", ausgerechnet in der? Ne, echt, das ist voll ungerecht!
Es mehren sich die Stimmen, die einen Abriss des nicht eröffneten Neubaus Berlin BER befürworten, weil Abriss und komplette Neuplanung zusammen immer noch billiger kämen als Flickschusterei. Denn dieser Flughafen war von Anfang an zu klein angelegt, er wird nie die Kapazitäten bewältigen können, die Berlin benötigt, um den (innerstädtischen) Flughafen Tegel schließen zu können. Die Situation in Stuttgart ist ganz ähnlich. Der Tiefbahnhof Stuttgart 21 wird nie mehr als 32 Züge in der Stunde bewältigen können; das sind 24 weniger, als der heutige Kopfbahnhof kann.
Liebe Berliner! Ob Ihr das jetzt glaubt oder nicht, es ist so: Wir geben am Ende wahrscheinlich das Vier- oder Fünffache dessen aus, was euer Flughafen kostet, damit weniger Leute Bahn fahren können. Dafür funktioniert unser Flughafen ganz prima. Und wo werden noch mal die besten und die teuersten Autos gebaut?
Die Bundeskanzlerin behauptet eisern, an Stuttgart 21 entscheide sich die Zukunftsfähigkeit des Technologiestandorts Deutschland. Dann steht es schlimm um Deutschland.
Große Projekte provozieren große Gefühle? Wenn Berlin vielleicht arm ist, aber sexy, dann ist Stuttgart reich, geil und schlichtweg bescheuert. Wie auch immer, Herr Grube. Einmal haben sogar Sie zu tief gestapelt: Was Sie provozieren, sind sogar ganz große Gefühle.
PS: Ministerpräsident Winfried Kretschmann gibt jetzt erstmals zu, dass die Landesregierung an das Ergebnis der S-21-Volksabstimmung vom November 2011 "formal-juristisch" nicht mehr gebunden sei. In einer Antwort auf einen offenen Brief schränkt Kretschmann aber ein, dass er sich trotz Kostenexplosion politisch an das Votum gebunden fühle.
Der offene Brief stammt von prominenten S-21-Gegnern, dem ehemaligen Stuttgarter Bahnhofsvorsteher Egon Hopfenzitz, der Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig, dem Theaterregisseur Volker Lösch und dem Schauspieler Walter Sittler.
Kontext dokumentiert den <link file:4573 _blank download>offenen Brief, <link file:4574 _blank download>Kretschmanns Erwiderung und <link file:4575 _blank download>die Antwort darauf.
1 Kommentar verfügbar
Jutta Mertins
am 30.01.2013Bei einer…