KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Waschbär-Angriff

Morgens ist der Finger weg

Waschbär-Angriff: Morgens ist der Finger weg
|

Datum:

Eine verrückte Geschichte: Die Stuttgarter Galeristin Edith S. wacht auf und stellt fest, dass ihr ein Stück des Mittelfingers fehlt. Alles deutet darauf hin, dass ein Waschbär zugebissen hat.

Hanover County, US-Bundestaat Virginia, 150 Kilometer südlich von Washington, Dezember 2025: Ein sturzbetrunkener Waschbär torkelt durch einen Schnapsladen. Der Boden ist übersät von zerbrochenen Flaschen. Seinen Rausch schläft er, alle viere ausgestreckt, neben einer Toilette aus. Das Video macht ihn weltberühmt. Kontext-Redakteur Schredle schickt es mit dem Vermerk herum, der Waschbär werde immer menschenähnlicher. Später wird bekannt, dass das Wildtier Wiederholungstäter ist. 

Der Kollege hat sich in das Thema eingearbeitet, seitdem er die Galeristin und promovierte Germanistin Edith S. (Name von der Redaktion geändert) im Stuttgarter Heusteigviertel besucht hat. Wie hier und hier berichtet, ist ihr im August dieses Jahres ein Fingerglied abgebissen worden, nachts im Schlaf. Sie wohnt im Dachgeschoss, die Tür zum Balkon ist offen, der Eindringling muss über einen Baum vor dem Haus in das Zimmer gekommen sein. 

Ausgabe 753 vom 03.09.2025

Der Eindringling

Von Minh Schredle

Als Edith S. aufwacht, fehlt ihr ein Stück vom Finger. Ärzte vermuten zunächst eine psychotische Selbstverstümmelung. Doch ein wildes Tier ist in ihre Wohnung im Stuttgarter Heusteigviertel eingedrungen.

Beitrag lesen

In der Notaufnahme des Krankenhauses findet die Betroffene ratloses Personal vor. Ob sie schlafwandle, sich in einem psychotischen Zustand womöglich selbst den Finger abgetrennt und verschluckt habe, wird die 77-Jährige gefragt. Der Magen wird geröntgt – ohne Ergebnis. Immerhin: In einer Gewebeprobe findet sich tierischer Speichel. Eine genauere Bestimmung, heißt es später, lasse das Material nicht zu. Der städtische Wildtierbeauftragte sagt, aller Wahrscheinlichkeit nach habe es sich um einen Waschbär gehandelt, der invasive Allesfresser werde immer dreister und vermehre sich rasant. 

Das Fernsehen steigt ein, der SWR fragt: Was tun, wenn die "putzigen Nager" zur Plage werden? Im Hörfunk werden neue Studien vorgestellt, die nahelegen, dass die Biester bald zu Haustieren werden könnten, weil ihre Scheu vor Menschen immer kleiner werde. Ein Merkmal könnten die um 3,5 Prozent kürzeren Schnauzen bei urbanen Waschbären sein, die auf weniger Stress, sprich Nahrung im Überfluss hindeuten. 

Sollte dies den Kuschelfaktor erhöhen, dann nicht bei der Stuttgarter Galeristin. Sie hätte wahrscheinlich nichts dagegen, als down to earth charakterisiert zu werden, durchaus bodenständig, auch in der Lage, mit einer gebrochenen Schulter eine Auktion in London durchzustehen. Ohne Scheu präsentiert sie ihren abgebissenen Mittelfinger: "Spüren Sie, wie kalt er ist?" Ziemlich cool. Eine befreundete Psychologin, die sie aufgesucht hat, weil man ja nie wissen kann, ob im Oberstübchen noch alles in Ordnung ist, hat ihr eine große "innere Stabilität" bescheinigt. 

Dazu passt auch die Geschichte mit ihrem Doktorvater, der kein Geringerer als Heinz Schlaffer war. Der vor zwei Jahren verstorbene Stuttgarter Ordinarius für Literaturwissenschaft, ein enfant terrible seiner Disziplin, hatte einen Ruf wie Donnerhall und ein besonderes Kleidungsstück, an das sich Edith S. noch gut erinnert: einen Waschbärmantel. Ein Kürschner braucht dafür um die 30 Felle.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Write new comment

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!