KONTEXT:Wochenzeitung
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Wir sind Fremde

Wir sind Fremde
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Im Alltag und in der Literatur finden sich tradierte Lebens- und Denkmuster, die vielen kaum noch bewusst sind. Dabei haben sie eine zeitaktuelle Bedeutung. Vor allem vermitteln sie strukturiertes Denken – eine Kompetenz, die in der Bildung wie im Beruf besonders wichtig ist. Die Kontext:Wochenzeitung hat diese Denkmuster in den vergangenen Wochen wieder blank geputzt, in einer fortlaufenden Erzählung. Zum Abschluss geht es um das Wir und die Fremdheit.

Die Denkerpose als Graffito.

Mitte September gingen die vier durchs Gebirg'. Die Sonne schien, das Panorama putzte sich propper heraus, schön war's. Die Kulisse rund um Oberstdorf hielt, was Manuelas Hochglanzprospekt versprochen hatte.

Der Berg rief. Und alle waren gekommen. Menschenpulks auf den Höhenwegen, Schlangen an den Scharten. Traditionalisten in Kniebundhosen, roten Socken und ordinären Anoraks gingen neben funktionsbekleideten Outdoor-Climbern. Pfiffige Murmeltiere kamen mit ihren Warnrufen kaum nach, die letzten Gämsen verzogen sich bis unter die Gipfel. Wie pittoresk, die Kameras waren gezückt.

Sie hatten sich eingereiht in die massive Wanderbewegung. Am frühen Mittag waren sie vom Tal aus zur Hütte unterhalb des Widdersteins gewandert, auf dem für den nächsten Morgen ihr romantisches Gipfelgespräch anberaumt war. Unterwegs hatten andere Aufsteiger ihre Position bestimmt: "Ich bin jetzt auf 2098 Meter", gab ein GPS-gewappneter Mann im Outdoor-Look durch, "für die Strecke sind drei Stunden veranschlagt, ich habe nur zweieinhalb gebraucht." Laut sprach er ins Handy, von oben herab.

Doris schüttelte den Kopf. "Der wahre Climber von heute ist immer auf der Höhe der Zeit: Baumgrenzen überwinden, Höhenluft spüren, in Rekordzeit ganz nach oben kommen – das ist alpiner Lifestyle. Wie zu Hause."

"Na, na, nur kein Zynismus, da geht einem schnell die dünne Luft aus", sagte Stefan. "Der Weg ist eben das Ziel."

"Eher das Erreichen der persönlichen Spitzenstellung", entgegnete Doris scharf.

Stefan blickte sie herausfordernd an. "Wo bleibt nur deine romantische Ader? Hier ist doch Sommer, Freude, Kommunikation." Stefan ließ sich ins Gras fallen.

Manuela setzte sich zu ihm und schaute auf die umliegenden Berge. "Stimmt, diese Bilder sind zu schön für Gesellschaftskritik. Lasst uns einfach genießen, dass wir da sind."

Alte Almdudler mit Luis-Trenker-Romantik

Als sie abends in der vollen Hütte saßen, fielen aber auch Manuela die Gespräche an den Nebentischen auf. Lautstark wurden Erfolgsmeldungen vom Tag ausgetauscht, in akkuraten Meterangaben. Sie klangen wie Börsentrends: Hammerspitze 2170, Biberkopf 2599, Widderstein 2533. "Die reden sich ja mit ihren Höhepunkten schwindlig", sagte Manuela. Als einige Handy-Men outdoor gingen, schaute sie ihnen kopfschüttelnd nach. "Da können wir alten Almdudler mit unserer Luis-Trenker-Romantik einpacken."

Stefan grinste. "Im Matratzenlager werden nachher alle gleich sein."

Wie recht er hatte. 21 Aufsteiger und Wandervögel teilten sich einen Raum. Schafsack an Schlafsack. Um 22 Uhr war kollektive Bettruhe. Der anstrengende Versuch, Ruhe zu finden, wurde zur Gruppenarbeit. Draußen vor der Hüttentür läuteten Kuhglocken, drinnen gähnte, schnarchte und schnaubte es sehr menschlich.

Die Berglandschaft hat etwas Mystisches.

Es war noch dunkel, als sie am nächsten Morgen losgingen. Steil führte der Pfad Richtung Widdersteingipfel, zunächst noch durch grüne Matten, dann war nur noch Stein. Schritt für Schritt stiegen die vier auf felsigen Terrassen hoch, immer nach den roten Punkten suchend, die den Weg wiesen.

"Mann, ist das anstrengend", keuchte Stefan, "hol's die Geierwally, wie lange geht das noch?"

"Bloß nicht schwächeln", sagte Manuela, "ich dachte, du suchst für mich einen Enzian."

Stefan grinste gequält. "Kannst du mit der Romantik bitte bis oben warten?"

Langsam war es hell geworden. Dunkle Felsenschächte bekamen Konturen, und plötzlich war das Gipfelkreuz zu sehen. Wolf hielt an. "Das ist doch ein tolles Bild."

"Ja, es hat fast was Mystisches", sagte Doris. Lange starrte sie nach oben.

Manuela und Stefan waren weitergegangen. Seite an Seite. Von hinten sah man nur ihre großen Rucksäcke, dicht beieinander. Als sie ein steil abfallendes Schneefeld überqueren mussten, ergriff Manuela für einige Sekunden Stefans Hand.

Sie haben sich berührt, dachte Wolf.

Plötzlich flutete helles Licht auf die Felsenformationen, der Schacht hatte sich geöffnet. Nur noch wenige Meter über einen Grat, dann hatten sie den Gipfel erreicht. Die Sonne ballte sich glutrot im Osten. Hunderte von grauen Zacken stießen an den hellblauen Himmel.

"Unglaublich, da sieht man ja fast die gesamten Alpen. Das ist ja wunderschön", sagte Stefan. Versonnen, fast andächtig stand der Manager da, am Gipfelkreuz, nahm seinen Rucksack ab und gab Manuela die Hand, dann Doris und Wolf.

Der Gipfel – ein Ort für romantische Sehnsucht

Sie setzten sich auf den steinigen Boden unter dem Kreuz, eng zusammengerückt. Es war völlig still, kein Ton, nirgends. Die Morgenluft roch frisch. Manuela zeigte auf das gewaltige Bergpanorama. "Das ist ein Ort für romantische Sehnsucht", sagte sie, "im wahrsten Sinne des Wortes." Gedehnt sprach sie das Wort noch einmal aus: "Sehn-Sucht. Solche Bilder zu sehen und zu fühlen kann süchtig machen." Sie sprach leise, obwohl sie allein waren. Noch schienen sich andere Aufsteiger nicht auf den Weg gemacht zu haben. "Im Alltag fehlen uns oft solche stillen, tiefen Bilder. Da zappen wir uns eher durch schnelle Kurzszenen, aneinandergereiht wie in einer filmischen Collage."

"Du hast recht", meinte Stefan. "Am Ende einer Woche weiß ich oft nicht mehr, was ich an welchem Tag gemacht habe."

"Heute Stuttgart, morgen Paris, übermorgen Mailand. Du bist eben in deinem Job ein fliegender Ortswechsler, ein hektischer Handelsreisender", sagte Wolf.

"Klar, aber irgendwo habe ich gelesen, dass diese Art von Vergesslichkeit bei uns allen in den vergangenen Jahren zugenommen hat."

"Weil alles so schnelllebig geworden ist", sagte Doris, "und oberflächlich."

Manuela nickte. "Umso mehr wächst daher wohl unsere Sehnsucht."

"Sehnsucht nach was?", fragte Stefan.

"Eigentlich nach allem, was uns dem Gefühl nach zu fehlen scheint: nach Stille, Ruhe, nach Leben, das nicht an uns vorüberrauscht, sondern zu greifen ist, auch nach Gesprächen, die Dialoge und keine Monologe sind, nach Innerlichkeit, die nicht nur Fassade ist, ja, auch nach Liebe, wechselseitiger Liebe – wenn du willst: nach Romantik."

Das klang druckreif, als ob Manuela ihre Gedanken zuvor aufgeschrieben hatte. Jedenfalls schien sie sich intensiv auf das Gipfelgespräch vorbereitet zu haben.

"Aber Romantik ist doch wieder nur ein Gefühl, ein Teil, nicht das Ganze", sagte Doris, "für mich ist Sehnsucht heute eher die Suche nach dem, was noch nicht zerbrochen, zerteilt und zerbröselt ist. Sozusagen nach dem, was uns noch zusammenhält, privat wie sozial."

Gefühle benennen, begreifen, auf ihre Wirklichkeit abklopfen

"Ich meine ja auch, dass Romantik nicht nur Emotion sein darf", betonte Manuela. "Eigentlich sind wir heute doch alle Rationalisten. Wenn dann irgendwas gefühlig ist, tun wir so, als ob das was anderes ist, und nennen es gleich romantisch. Hören wir zum Beispiel von einer schönen Liebesgeschichte, dann schwärmen wir sofort: 'Ach, wie romantisch.' Auch wenn es nur Kitsch oder Klischee wäre. Mir ist inzwischen klar geworden, dass Romantik sehr viel mit Rationalität zu tun hat: Erst wenn wir Gefühle benennen, sie begreifen und auf ihre Wirklichkeit abklopfen, dann bleiben sie nicht nur an der Oberfläche, sondern gehen in die Tiefe. Nur so werden sie echt."

"Du meinst, wenn sie nicht reine Idee bleiben, sondern im Konkreten gelebt werden", sagte Doris. Sie schmunzelte. "Ich glaube, dieser alte Walther von der Vogelweide und diese Denkmuster haben nicht nur mich beeindruckt."

"Ich weiß nicht, ob das was mit Walther und diesen Dingen aus dem Mittelalter zu tun hat", meinte Manuela. "Jedenfalls steht für mich fest, dass sich in unserem Denken was Positives verändert, wenn wir nicht mehr Hirn und Herz, Rationalität und Romantik trennen, sondern dazu stehen, dass wir beides zur gleichen Zeit sind und haben."

Rationalität und Romantik sind nicht zu trennen.

Dann blickte Manuela Doris an. "Eines habe ich gelernt: So wie Gedichte, ob von Walther oder modern, als rationale Formen von Lebensbeschreibung zu sehen sind, so sollten wir selbst unser Leben, unsere Gefühle, Erfahrungen und Erlebnisse rational interpretieren. Das wäre ein erster Schritt, um was zu verändern."

Doris nickte heftig. "Das geht vom konkreten Bezug zwischen Subjekt und Objekt bis zur Frage, ob wir uns im Kreis drehen oder auf dem Weg sind und ob wir Ideen im konkreten Alltag umsetzen. Ich glaube, mit solchen Denkmustern umzugehen macht das Leben bewusster."

Die anderen schauten wieder auf die mächtige Bergwelt. "Es klingt vielleicht komisch, aber ich habe mir überlegt, dass es auch in meinem Bereich eine merkwürdige Art von romantischer Sehnsucht gibt", sagte Stefan.

Die anderen schauten ihn verwundert an.

Gegeneinander statt miteinander im Berufsalltag

"In der Wirtschaft wird so getan, als ob es noch ein ganz großes Wir gebe. Jahrzehntelang wurde Arbeitsteilung betrieben, das Leistungsprinzip forcierte zudem das Ellenbogendenken. Als vor zwanzig Jahren bei uns aber die Gewinnkurven nach unten gingen, setzte man plötzlich auf die Gruppenarbeit. Es ist schon verrückt: Firmenbosse, die mit der 68er-Zeit eigentlich nichts am Hut hatten, entdeckten das Kollektiv. Inzwischen haben sie aber gemerkt, dass man das Rad der Zeit nicht zurückdrehen kann. Es funktioniert nicht: Die Mitarbeiter machten nicht mit, es hagelte Konflikte. Statt miteinander ging es gegeneinander. Das Eigeninteresse ist einfach zu groß – der Egoismus. Still und leise wurde die Gruppenarbeit wieder aufgelöst, die meisten Firmen sind zum alten Schichtbetrieb zurückgekehrt, auch mein Unternehmen."

"Dieses Wir-Gerede ist die glatte Lüge, auch in der Politik", sagte Doris. "In großen Reden wird die Gemeinschaft beschworen. Dabei weiß jeder Politiker, dass es die gar nicht mehr gibt." Doris sinnierte. "Ich glaube, sie muss erst wieder erlernt werden – in der Gesellschaft wie im Privaten."

Sie griff nach ihrem Rucksack, kramte herum und zog ein Blatt Papier heraus. "Seit unserer Italienreise geht mir das Ganze nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe die Literatur durchgeblättert, die ich früher gelesen habe. Dabei habe ich das gefunden."

Doris legte das Blatt auf den steinigen Boden. Es war ein Gedicht von Paul Celan, dem jüdischen Dichter, der nach 1945 die "Todesfuge" geschrieben hatte: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland ..." Er galt als dunkler, hermetischer Dichter. Das Celan-Gedicht, das Doris ausgebreitet hatte, hieß "Sprachgitter". Sie las einige Zeilen daraus vor:

Wär ich wie du
Wärst du wie ich.
Standen wir nicht unter einem Passat?
Wir sind Fremde.

"Als ich das las, war ich völlig geschockt", sagte Doris, "weil es zu all dem, worüber wir in den vergangenen Wochen gesprochen haben, passt." Sie stockte. "'Passt' ist wohl das falsche Wort. Es ist mehr als das."

Dann schaute sie Manuela an. "Erinnerst du dich an das vermutlich erste deutsche Liebesgedicht?"

"Klar", sagte Manuela. "Du bist mîn, ich bin ..." Dann brach sie ab. "Mensch, ich weiß, was du meinst. Das ist hier ja ähnlich, nur im Konjunktiv: Wär ich wie du, wärst du wie ich."

"Das ist es", sagte Doris mit Nachdruck,Die Gemeinschaft muss erst wieder erlernt werden. In der Gesellschaft wie im Privaten. "was im mittelalterlichen Liebesgedicht feststeht, du bist mîn, das ist bei Celan nur noch gedachte Möglichkeit – eigentlich Unmöglichkeit, denn es ist Konjunktiv: Wär ich wie du, wärst du wie ich."

Jetzt horchte auch Stefan auf. "Also ein Anti-Liebesgedicht?"

Doris schüttelte den Kopf. "Nein, wenn ich es richtig verstehe, geht es im Celan-Gedicht darum, ob und wie Annäherung oder gar Liebe überhaupt wieder entstehen kann."

Sie machte eine Pause. "Bei Celan hat das einen schrecklichen Hintergrund: In seinen Gedichten geht es darum, was nach dem Holocaust noch sagbar ist, ob und wie in deutscher Sprache, seiner Sprache und der seiner Verfolger, ein Dialog wieder möglich ist."

Doris zeigte auf das zerknitterte Stück Papier. "Standen wir nicht unter einem Passat? – in dieser Frage wird gemeinsame Vergangenheit angesprochen. Also ein Stück Gemeinsamkeit, aber in Frage gestellt. Und dann kommt's."

Doris legte einen Finger auf die Zeile, bevor sie las: "Wir sind Fremde." Wieder machte sie eine Pause. "Immer wieder habe ich diesen Satz gelesen, immer und immer wieder, bis es mir klar wurde: Das Wir ist möglich, es kann ausgesprochen, gelebt werden – aber nur, wenn das Fremde zugleich mitgedacht wird. Versteht ihr? Das Fremdsein muss einem bewusst sein, das Andere, die Distanz, nur so kann wieder ein Dialog, ein Bezug zwischen ich und du entstehen."

Manuela und Stefan schauten sich verblüfft an. "Also auch Liebe?", fragte Stefan.

Doris nickte heftig.

"Aber Celan schrieb das doch in einem ganz anderen Zusammenhang als wir ihn heute haben", wandte Manuela ein.

Wie Fremde wieder zu Nähe wird

"Das stimmt", sagte Doris. "Diesen geschichtlichen Zusammenhang muss man sich auch bewusst machen. Aber wir haben ja auch an den alten Gedichten gesehen, dass die Denkstruktur, die sich in einem Gedicht ausdrückt, auf das Heute bezogen werden kann. Weil sie Leben beschreibt. Das ist hier auch so: Für mich ist dieses Celan-Gedicht ein Signal dafür, dass und wie ein Dialog wieder entsteht – indem man sich bewusst macht, dass ich, du und wir nicht nur Wörter sind, die man so dahinsagt, sondern gefunden und benannt werden müssen. Und vor allem gelebt werden müssen, ganz konkret. Nur so kann Fremde wieder zu Nähe werden. Zu Liebe."

Doris erhob sich. "Ich habe mir vorgenommen, danach zu leben." Sie sagte es sehr bestimmt. Und sie fügte hinzu: "Auch in meiner Beziehung zu Uli."

"Ja, das hat was", sagte Manuela. "Wir müssen das Miteinander wieder lernen, wie kleine Kinder das Laufen lernen – indem wir das Andere und Fremde mitdenken und akzeptieren."

Sie lächelte Stefan an. "Jemand zu lieben ist also so ähnlich wie ein Gedicht zu interpretieren. Man muss beides sehr ernst nehmen und sich die Mühe machen, die Strukturen zu erkennen."

Vor dem Abstieg trugen sie sich ins Gipfelbuch ein. "16. September: Romantisches Gipfelgespräch", schrieb Doris. Darunter: "Du bist mîn. Wär ich wie du. Wir sind Fremde."

Manuela und Stefan verbanden ihre Namen mit einem Pluszeichen. Daneben schrieben sie in großen Buchstaben: "Unterm Beton liegt der Strand."

Wolf hatte gewartet, bis die anderen auf dem Weg nach unten waren. Dann schrieb er ins Gipfelbuch: "Wir sind alle rationale Romantiker."

(Die Fotos in diesem Beitrag lassen sich durch Anklicken vergrößern.)


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