Manuela hatte die Idee mit der Romantikreise gleich in die Tat umgesetzt. Die Route für den Italien-Trip stand, das Hotel war gebucht. Früher waren die vier Freunde einfach drauflosgefahren, mit Zelt, Luftmatratzen und dem sicheren Gefühl, studentische Taugenichtse zu sein. Jetzt erschien der Campingplatz allen als unbequem. Stefans Metaphorik ließ an Feinsinnigkeit mal wieder nichts vermissen: "Romantik, von mir aus, aber nicht auf hartem Boden."
Wolfs Rolle bei der Italien-Reise hatte Stefan klar definiert: "Du darfst zwischendurch deinen Lyrik- und Denkmuster-Kram vortragen. Aber es muss genügend Zeit für Muße und Dolce Vita bleiben. Immerhin haben ja wohl Goethe und irgendwelche romantischen Künstler bei ihrem Italien-Trip auch nicht nur gehirnt!" Bei diesem gewagten Vergleich hatte er selbst lachen müssen.
Sie fuhren durch die Nacht. München, Garmisch, Innsbruck, Brennerautobahn. Die beiden Frauen wirkten aufgekratzt. "Ich freue mich vor allem auf Venedig. Markusplatz, Seufzerbrücke, dort fühlt man sich wie in einer anderen Welt", schwärmte Doris.
"Für mich ist der Trip wie ein kleiner Ausbruch", sagte Manuela. "Zum Glück ist Sina gut versorgt." Ihre Tochter hatte sie zu einer Freundin gebracht. Um Doris' Kinder kümmerte sich deren Mutter. Sie wohnte im selben Haus.
Wolf genoss die Fahrt durch die Dunkelheit. Die Berge zeichneten sich als dunkelblaue Silhouetten ab. Auf manchen hoch gelegenen Alpenhütten brannte schon Licht. Bewegte Schwarz-Weiß-Bilder.
Zum Weinen schön
Nur Stefan saß leicht verdrossen am Steuer. Am Tag zuvor hatte der VfB ein Spiel verloren. "Wir spielen zu einfallslos, ohne überraschendes Moment. Und vor allem haben wir keine richtigen Stürmer", brummte er, "richtige Knipser, Vollender."
Stefan gab Gas. Und stierte auf die schwarze Fahrbahn. "Das Glück ist rund? Dass ich nicht lache."
Manuela meldete sich aus der Tiefe des Innenraums: "Mach dir nichts draus. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel." Doris kicherte: "Und das nächste Spiel ist immer das schwerste."
Glutrot ging die Sonne auf, als sie ihr erstes Ziel erreicht hatten. "Wie bestellt", sagte Manuela. Ihr Kommentar ging in Doris' Jubel unter: "Wie romantisch!", sagte sie und rief zum zehnten Mal, was seit einer Stunde auf den Hinweisschildern am Autobahnrand ganz oben stand: "Veneziaaaa!"
Am Horizont erschienen die riesigen Kräne von Mestre, in grelles Rot getaucht. Stefan zeigte auf die bizarren Metallgestänge: "Schrott in Venedig."
Manuela lachte. "Du hast ja deinen Thomas Mann gelesen."
Der frühe Morgen gab der Stadt helle, klare Konturen. Frisch rausgeputzte Palazzi strahlten perlweiß, selbst die grauen, verwitterten Gemäuer dazwischen grinsten pittoresk. Der Verkehr auf den Wasserstraßen plätscherte dahin. Geschäftsleute im feinen Zwirn ließen sich zu frühen Dates schippern, die Taxi-Kapitäne lenkten mit lässig-lakonischer Geste ihre Boote und nahmen per Handy neue Touren entgegen. Noch hatte die Stadt nicht den Kanal voll.
Doris hatte auf die Bootsroute über den Canal Grande bestanden. "Wenn wir schon mal da sind, gönnen wir uns das." Stehend nahm sie, mit verzücktem Lächeln, die Parade der defilierenden Sehenswürdigkeiten ab. "Kennt ihr die Filmszene, als Sissi nach Venedig kommt und ihr am Ende ihr Kind ihr entgegenläuft? Zum Weinen schön." Als das Boot unter der Rialto-Brücke durchfuhr, stieß Doris einen kurzen Entzückungsschrei aus. Dann verstummte sie in stiller Andacht.
Manuela schaute auf einen Palazzo, der gerade saniert wurde. Eine riesige Folie hing vor dem Gebäude, sie zeigte bis in die einzelnen Mauerlinien, wie der Palazzo künftig im erneuerten Zustand aussehen würde. "Schöne Fassade", sagte sie. "So kaschiert man die Baustelle. Gute Idee."
Dann stieß sie Stefan an, der müde ins trübe Wasser blickte. "Hey, hier muss irgendwo das Gefängnis sein, in dem Casanova saß."
Stefan blickte auf und schmunzelte: "Wenn du nicht gut tust, buche ich eine Gondelfahrt mit allen Schikanen und O sole mio – nur für uns zwei."
Manuela verzog das Gesicht. "Das ist eine echte Drohung." Ihre Stimme klang merkwürdig sanft.
Wolf griff nach seinem blauen Aktenordner, den er mitgenommen hatte, und blätterte darin. "Minnesang" stand über einem Kapitel. Er musste sich noch vorbereiten.
Venezianisches Liebesgeflüster
An der Station San Marco stiegen sie aus. Doris zückte die Kamera. Schnellschüsse. Motive reihten sich an Motive, wie die Souvenirstände am Rande der Wege und kleinen Brücken. "Ich muss Uli unbedingt eine venezianische Maske mitbringen", sagte Doris, "das hat er sich gewünscht."
Stefan protestierte. "Die kannst du später noch kaufen. Jetzt frühstücken wir erst mal und dann machen wir Liebe."
Doris schaute irritiert. Stefan zeigte auf Wolf: "In der Stadt der Amore wirst du uns doch bestimmt was über Liebesgedichte erzählen. Oder?"
"Lass dich überraschen", sagte Wolf. Natürlich hatte Stefan seinen Plan durchschaut. Ein zweites Mal ließ der sich nicht linken.
Eine halbe Stunde und vier Cappuccini plus acht Toasti später saßen sie mitten auf dem riesigen Markusplatz. Im Schneidersitz, wie früher bei ihren Sit-ins. Der Boden fühlte sich schon warm an, die Sonne war langsam über die mittelalterlichen Häuserreihen geklettert. Neugierig tappten Tauben und ein paar Frühaufsteher umher, als sie ihr venezianisches Liebesgeflüster starteten.
Wolf drückte den anderen ein Blatt in die Hand. Sie lasen es:
Du bist mîn, ich bin dîn,
des sollt dû gewis sîn.
Du bist beslossen in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
du muost ouch immer darinne sîn.
"Es ist das vermutlich erste Liebesgedicht in deutscher Sprache", sagte Wolf.
"Du bist mein, ich bin dein", sprach Doris die erste Zeile nach. "Ach, wie schön", sagte sie, "wie schlicht und doch irgendwie tiefgründig die Liebe darin beschrieben wird."
Manuela hakte sofort ein: "Bemerkenswert, dass das Gedicht mit Du anfängt. Heute würde es sicher mit Ich losgehen. Das Ego ist uns doch heilig."
Stefan sinnierte über etwas ganz Anderes: "Das mit dem Schlüsselchen, da ist wohl nicht der Schlüssel für den Keuschheitsgürtel gemeint, sehe ich das richtig?"
Manuela rief ihn zur romantischen Ordnung. "Lass deine Sprüche."
Wolf schrieb die Pronomina aus der ersten Zeile auf ein Blatt Papier und legte es in die Mitte:
Du – mîn,
ich – dîn.
Dann verband er das Wort "Du" mit "dîn" und "mîn" mit "ich". Die gezeichneten Linien kreuzten sich. Eine rhetorische Figur, erklärte Wolf: "Ein Chiasmus – kreuzweise syntaktische Stellung von aufeinander bezogenen Wörtern." Es war seine absolute Lieblingsfigur.
"Sind die beiden also über Kreuz?", fragte Manuela frech.
"Ganz im Gegenteil", betonte Wolf. "Der Chiasmus steht hier für eine wechselseitige Verbindung. Eine dialogische Struktur."
Er forderte die anderen auf, in der ersten Zeile jeweils Subjekt und Objekt zu markieren.
Stefan stöhnte. Für grammatikalische Spielchen fehlte ihm am frühen Morgen noch die Muße.
Manuela begriff jedoch sofort: "Zuerst ist das Du Subjekt und das Ich Objekt – du bist mîn –, dann ist das Ich Subjekt und das Du Objekt – ich bin dîn." Sie überlegte kurz, dann sagte sie laut: "Mensch, das ist ja einfach genial. Beide sind Subjekt und Objekt zugleich, gleichberechtigt, keiner beherrscht den andern. Wahnsinn, das ist wirklich Liebe!"
Die Tauben um sie herum gurrten heftig, als ob es sie irgendwie interessieren würde.
Manuelas Stimme wurde wieder leiser. "Tja, im Gedicht mag das gehen. Aber im richtigen Leben?"
Doris schaute schweigend vor sich hin. Irgendwas schien sie zu beschäftigen.
"Es ist wie im richtigen Leben", sagte Wolf zu Manuela. "Die Sache ist schwierig – wie immer, wenn es um Liebe geht, also wie heute. Schon beim ersten deutschen Liebesgedicht fällt ein Muss auf – du musst in meinem Herzen eingeschlossen sein."
Stefan grinste: "Liebe als Schlüsselerlebnis."
Das Vorspiel war gelaufen, die rhetorisch-grammatikalische Liebesstellung geklärt. Der Markusplatz hatte sich gefüllt, Touristen aus aller Herren Länder gingen am sitzenden Romantik-Quartett vorüber. Doch das merkte Wolf nicht mehr. Jetzt war er mitten in seiner Minne-Mission. "Bei der mittelalterlichen Liebeslyrik geht es nicht um oberflächliche Herz-Schmerz-Gefühlchen oder eine sentimentale Mode. Es geht darum, wie sich das Ich zum anderen, zum Du und schließlich auch zu Gott und zur Welt stellt – und vor allem um die Frage, wie das Ich Wirklichkeit und Wahrheit begreift."
Ein Drüberflieger ohne Landeerlaubnis
"Das klingt ja ziemlich modern", sagte Manuela. "Ist es auch", erwiderte Wolf emphatisch. "In diesen zentralen Fragen haben sich die Minnedichter gehörig gefetzt." Wolf wies auf die Mitte des Markusplatzes. "Stellt euch vor, dort sitzen drei Minnesang-Stars von damals und führen einen harten Diskurs."
Die anderen blickten auf die imaginäre Liebes-Dreierrunde.
Wolf stellte das Trio vor: ganz rechts Reinmar von Zweter, der Altmeister vom Wiener Hof. Er ist der Klassiker des abgehobenen Minnesangs, der Hans-Guck-in-die-Luft-Liebeslyrik. In seinen Gedichten betet der Mann stammelnd die Herrin an, hebt sie in den Himmel, fällt auf die Knie. Die hohe Dame zeigt ihm stets die kalte Schulter – obwohl, nicht mal die bekommt er zu sehen. No sex. Der Drüberflieger bekommt von der Frau keine Landeerlaubnis. Ewig bemüht er sich, garantiert ohne Erfolg, aber auch ohne zu jammern über die gnadenlos kühle Dame. Es läuft nichts, gar nichts. Diese Art von Liebe ist reine Idee, kopflastig – und völlig einseitig. "Stirbt sie, so bin ich tot", stammelt der Herrin-Versteher Reinmar.
Sofort meldet sich der um Jahre jüngere Reinmar-Widersacher zur Linken zu Wort: "Nix da", wettert er, "sterb ich, so ist sie tot." Gestatten: Walther von der Vogelweide, der fahrende Sänger, die legendäre Schnodderschnauze, die "tausend Mann betört hat", wie Zeitgenossen mit bösem Respekt sagen. Walther wirbelt Reinmars hohe Minne-Konvention kräftig durcheinander. "Hebe ich die Frau mir zu hoch, in den Himmel, in die Wolken, wird leicht der Preis meines Mundes zum Leid für mein Herz, für mein Denken." Dem alten Reinmar klingeln die Ohren. Walther holt dessen "frouwe" aus der 48. Galaxie herunter auf die Erde, beschreibt sie haargenau in allen Details, sogar nackt, pfeift auf die einseitige Verherrlichung der edlen Herrin und fordert stattdessen echte Liebe – als wechselseitige Beziehung zweier gleichrangiger Partner.
Wird Liebe als Idee nicht im Konkreten gelebt, kann er schon mal handgreiflich werden: Nimmt die Holde einen Jüngeren, soll der Nachfolger ihn bitte schön rächen und "ihr altes Fell mit jungen Gerten angehen". Minne sei "zweier Herzen Freude", betont Walther. Und das gilt bei ihm nicht nur für die Liebe zu einer hochgestellten Dame, sondern auch für eine Frau von niederem Rang. "Minne ist nur Minne, wenn sie wohltut" – wenn sie erwidert wird, dialogisch ist.
Ein Ring aus Schamhaaren
Jetzt grinst der Dritte in der Runde ziemlich dreckig. Mit Ideen oder Liebes-Idealen, über die sich die werten Dichter-Kollegen so heftig streiten, hat Neidhart von Reuental nichts am Hut, ganz und gar nichts. Der gerissene Parodist mag's nur konkret und sehr deftig. In seinen Liedern steckt ein Knecht seinen Finger in das "härîn vingerlîn", in den Ring aus Schamhaaren. Und aus der schönen frouwe wird eine zahnluckete Alte, die geil zu hopsen beginnt wie ein junges Reh: "Zahiu, ich will an des knappen hant." Ran an den jungen Kerl. Rauf auf das Fohlen. Ver-rückte Minne-Welt.
Stefan war plötzlich hellwach. "Mann, bisher dachte ich, Minnesang war so eine langweilige Schmalz-Veranstaltung, sozusagen Ralph Siegel für Ritter. Aber da scheint es ja schwer abgegangen zu sein."
Manuela grinste. "Dieser Neidhart liegt dir jetzt wohl besonders am Herzen."
Doris schwieg noch immer.
Wolf blickte zu Stefan. "Schnall dich an, es geht weiter. Und achte genau auf die Tauben um dich herum."
Auf Stefans Stirn entfalteten sich die zarten Umrisse eines Fragezeichens. "Hä?"
"Der Disput unserer Minne-Stars hat wahrscheinlich einen ganz besonderen Hintergrund. Ihre unterschiedlichen Positionen spiegeln einen Streit wieder, der damals die Welt durcheinanderwirbelte", sagte Wolf. "Das Denkproblem, das dahinter stand, wurde vor allem in den Pariser Hochschulen vorangetrieben, verunsicherte aber alle Lebensbereiche." Wolf verwies auf den sogenannten Universalienstreit. "Eigentlich geht es darum: Jede Taube pfeift's vom Dach, dass sie nicht an sich ein Vogel ist, sondern dass nur der Mensch einen Vogel im Kopf hat."
Stefan horchte auf. "Wie bitte?"
"Eine Taube, das ist etwas Konkretes, Besonderes – ein Vogel etwas Allgemeines. Beim Universalienstreit geht es um eine bis heute aktuelle Frage. Erstens: ob Allgemeinbegriffen eine vom individuell Besonderen unabhängige Realität zukommt; oder zweitens: ob Allgemeinbegriffe nur im individuell Besonderen Realität haben; oder drittens: ob Allgemeinbegriffe ohne Realität sind."
Liebe muss konkret gelebt werden
Wolf machte eine Pause. Dann fuhr er fort. "Platon war der Auffassung, das Allgemeine, also der Vogel, sei als Realität vorgegeben, und zwar unabhängig von der Taube. Aristoteles vertrat die Position, im Besonderen stecke das Allgemeine, also in der Taube der Vogel. Beide Positionen stehen für den sogenannten Realismus. Wer dagegen meint, allein der Taube, dem Besonderen, komme Realität zu, der ist Nominalist. Nominalisten denken, dass Allgemeinbegriffe keine Wirklichkeit haben, nicht real sind – sondern nur ein flatus vocis, ein Rülpsen der Stimmbänder."
Doris griff sich an den Kopf. "Ach, das hat es mit Realisten und Nominalisten auf sich! Der Streit muss tatsächlich ziemlich heftig gewesen sein. Neulich machte ich in Tübingen eine Führung mit. Als wir vor der Burse standen, wo Philosophie gelehrt wird, wurden wir auf die zwei Treppen hingewiesen, die ins Gebäude führen. Der Mann, der die Führung machte, erklärte uns den tieferen Sinn dieser zwei Treppen: In der Burse lehrten früher Realisten und Nominalisten unter einem Dach, was an Universitäten damals selten gewesen sei. Man habe auf eine klare, sichtbare Trennung geachtet – die Realisten nahmen die eine Treppe, die Nominalisten die andere."
Wolf nickte. "Diesen Streit haben wir vorher beim Disput der Minnesänger erlebt. Reinmar ist ein ausgemachter Platon-Realist. Seine Liebe ist abstrakt, sie gilt nicht einer konkreten Person, sondern dem Ideal. Für ihn ist einzig die Idee von Liebe real, das Allgemeine. Walther von der Vogelweide dagegen ist gemäßigter Realist, er vertritt die Position von Aristoteles. Für ihn muss sich das Allgemeine, die Idee, im Konkreten zeigen. Daher setzt er gegen Reinmars Minne-Allgemeinplätze das Besondere, in dem die reale Idee von Liebe sichtbar wird. Walthers Denkposition hat eine ungeheure Brisanz: Liebe als reale Idee wird dann brüchig, wenn sie nicht im Konkreten gelebt wird. Wenn innen und außen auseinanderfallen. Bei Neidhart von Reuental wiederum ist alles auseinandergefallen, innen und außen, oben und unten, Ideal und Wirklichkeit. Alles ist vereinzelt, nur das Konkrete hat Realität – bis zum Ring aus Schamhaaren. Neidhart, der Parodist, mimt den Nominalisten."
"Und heute?", fragte Manuela.
"Nominalistische Unverbindlichkeit oder als reale Idee gelebte Wechselseitigkeit, das ist nach wie vor ein beliebtes Thema", sagte Wolf. "Moderne Dichter haben es zeitgemäß in Form und Inhalt gebracht. Kurt Schwitters etwa, der Dadaist, Vorläufer der konkreten Poesie, scheint auf den ersten Blick Welten entfernt von Walther von der Vogelweide zu sein. Liest und hört man aber sein Liebesgedicht 'An Anna Blume' realistisch-bewusst, erkennt man plötzlich Verbindungen zum radikalen Minnesang-Reformer aus dem Mittelalter."
Wolf zitierte das Schwitters-Gedicht:
O du Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe
dir – du deiner dich dir, ich dir, du mir,
– Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher.
Wo bist du, umgewühltes Frauenzimmer?
Du bist – bist du? Die Leute sagen,
du wärest. – Laß sie sagen, sie wissen
nicht, wie der Kirchturm steht. Du trägst
den Hut auf deinen Füßen und wanderst
auf die Hände, auf den Händen wanderst du.
Hallo, deine roten Kleider in weißen Falten
Zersägt, rot liebe ich Anna Blume, rot liebe
Ich dir. – Du deiner dich dir, ich dir, du
mir – Wir?
Das gehört (beiläufig) wohl hierher.
Rote Blume, rote Anna, wie sagen die Leute?
1. Anna Blume hat einen Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel?
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das Girren des grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du
Liebes grünes Tier, ich liebe dir. – Du
Deiner dich dir, ich dir, du mir – Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Anna Blume, Anna, A-N-N-A, ich kaue
Deinen Namen. Wenn ich dich kaue über-
quellen meine 27 Sinne. Dein Name tropft
Wie weiches Rindertalg. Weißt du es Anna, weißt du es?
So wisse: Man kann dich auch von hinten
lesen, und du, herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne: A-N-N-A.
Du deiner dich dir, ich dir, du mir – Wir?
Das gehört (beiläufig) in die
Glutenkiste. Rindertalg träufelt streichelnd über meinen
Rücken. Anna Blume, du tropfes Tier, ich
liebe deine Einfalt, ich liebe dir!
"Die Dinge sind als Einzelnes durcheinandergewirbelt, die Welt ist eine Collage", sagte Wolf. "Die Pronomina erscheinen wie Bruchstücke, aber im inneren Zusammenhang: deiner dich dir, ich dir, du mir. Und Anna, diese konkrete, geliebte Frau, ist vollkommen. Weil man sie auch von hinten – Zeilensprung, pikante Pause – lesen kann. Ihr Sein, das einen Namen hat, ist vollkommen: 'du bist von hinten wie von vorne: A-N-N-A.' Das sprechende Ich liebt ihre Einfalt. Das ist kein männlich-lyrisches Machogehabe. Einfalt steht im Gegensatz zur Doppelheit, Zwiespältigkeit. Bei dieser Liebe geht es ums Ganze. Um ganz konkrete Einheit."
Stefan stöhnte: "Ich bin ganz konkret fertig." Er griff sich an den Rücken, dann an den Kopf. "Mensch, Minnesang ist aber anstrengend."
"Tja, Liebe ist eben kein Wattepusten", sagte Manuela. "Zuerst das große Kribbeln im Bauch, hohe Erwartung, ab und an Höhepunkte, dann rumliegende Socken und eine fremde Nummer auf seinem Handy. Von wegen Ideal."
Sie stand auf. "Die Liebe im Allgemeinen ist tatsächlich meist nicht gleich Liebe im Besonderen. Vor allem, wenn jeder besonders an sich denkt."
Stefan kniff die Augen zusammen. "Du meinst, der Teufel steckt im Detail?"
Dann stand auch er auf und breitete die Arme aus zu einer großen Geste: "Zuerst Stern", rief er, legte eine Hand an sein Herz und blickte theatralisch hoch zum venezianischen Himmel – "dann schnuppe."
Doris schwieg.
Sie gingen zur nächstgelegenen Haltestelle des schippernden Personennahverkehrs. Rushhour in der legendären Stadt. Touristenmassen zwängten sich durch die Gassen, füllten die Cafés, schoben sich von der Rialtobrücke zum Markusplatz und wieder zurück. Das Geschäft der Gondolieres lief gut.
Begegneten ihnen in der drängenden Menge Paare, Händchen haltend oder eng umschlungen, schaute Manuela sie lange und eindringlich an. "Was glaubt ihr, wer von beiden ist Subjekt und wer Objekt?"
Stefan reagierte sofort. "Vielleicht ist jeder Subjekt und Objekt zugleich."
"Dann wär's ja wirklich Liebe", sagte Manuela und schaute Stefan in die Augen. Der zeigte rasch auf ein Pärchen, das gerade in eine Gondel einstieg. "Kuck, ein neues Studienobjekt für dich."
Als sie wenig später in ein venezianisches ÖPNV-Boot gestiegen waren, stieß Stefan Doris an. "Du wolltest doch deinem Uli eine Maske mitbringen."
"Ach ja, stimmt. Hab ich vergessen", sagte Doris und schaute vor sich hin. Sie wirkte nachdenklich. Für die prächtigen Sissi-Kulissen, die sie bei der Hinfahrt noch wortreich bestaunt hatte, schien sie jetzt keinen Blick zu haben. Selbst unter der Seufzerbrücke hörte man von ihr keinen Entzückungsschrei mehr.
"Was ist los? Ist dir Wolfs Minnemarathon nicht bekommen?", fragte Stefan.
"Ich bin nur müde."
Ächzend stampfte das Boot zurück durch den vollen Kanal. Passagiere verstauten ihre Kameras, Venezia-Stadtführer und gesammelten Eindrücke. Verzückte Blicke zurück, bevor die Liebes-Stadt zur Silhouette verschwimmen und Parkhäuser wieder die Sehnsüchtigen schlucken würden.
Stefan schaute auf die dunkle Wasseroberfläche.
Manuela setzte sich neben ihn. "Spielst du Narziss?"
"Realistische Schwätzerin", sagte Stefan. Er lächelte dabei.
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