Insofern ist es Kennern auch ein Rätsel, wie Kretschmann in diesem Haifischbecken überleben konnte und kann. Hoch verletzlich und sensibel, wie er ist, harmoniebedürftig und verstört, wenn ihm aus Mappus-Kreisen eine Krankheit angehängt wird. Dann fällt ihm nur noch das Wörtchen "unanständig" ein, das in der politischen Arena ein ganz schweres Geschütz ist. Moralmäßig gesehen. Die Gönners und Hauks in der CDU werden davon gewiss tief beeindruckt sein, und die quicken Kuhns in Berlin, die Kretschmann ob seiner Bockigkeit nie wirklich ernst genommen haben – bis dato jedenfalls – werden bestenfalls mit den Schultern zucken.
Nils Schmid wird noch seine Freude mit Parteifreund Drexler haben
Dem Juniorpartner, der älteren SPD, ist dieser Politikstil bestens vertraut. Unvergessen, wie die Herren Wolfgang Drexler und Claus Schmiedel den einstigen Jungstar Ute Vogt 2008 aus dem Amt der Fraktionschefin gejagt haben. Das hoffnungsbesetzte "Mädle" hatte seine Schuldigkeit getan, Schmiedel folgte nach, frei nach seinem Motto: erst schlagen, dann fragen. Dass er sich danach mit den stockkonservativen Ärzten gemein machen wollte, die gegen den Gesundheitsfonds von Parteifreundin Ulla Schmidt mobilisierten, war der baden-württembergischen SPD ebenso opportun wie die wundersame Karriere Drexlers. Aus dem Landtagsvize wurde "Mister Stuttgart 21", der jetzt einem Baustopp zustimmen muss, den er bis vor Kurzem ins Reich der Fantasie verwiesen hat. Auch mit ihm wird Nils Schmid, der neue Erste, noch viel Freude haben. Knapp, wie die Mehrheit ist.
Die anderen könnten das Spiel gelassen betrachten. Ihr System steht. Fast 58 Jahre, eine politische Ewigkeit, hat die CDU dieses Land regiert. Durchregiert, von der Villa Reitzenstein aus, der Machtzentrale, bis zum schwarzen Ortschaftsrat im kleinsten Schwarzwaldweiler, bis zur Besetzung des Pförtners in einem Landratsamt der Ostalb, bis zum letzten Schulrektor. So entstand ein breites, gleichzeitig filigranes Netzwerk, mit einem schwarzen Filzstift durchs ganze Musterländle gezogen. Filz, so versichern Handarbeitsexperten, sei ein ungemein festes Material, dem nur mit einer Schere beizukommen sei. Wird die neue grün-rote Regierung diese tiefen Schnitte machen? Und wenn, kann das überhaupt gelingen?
Der designierte neue Ministerpräsident müsste eigentlich ein Filzkenner sein. Immerhin stammt Winfried Kretschmann aus Oberschwaben, einer Zentralregion des christdemokratischen Networking. Aus dem Himmelreich des Barock, wo die Landräte wie Monarchen über Feld und Flur ziehen und die Dinge unter sich regeln, zusammen mit der "Schwäbischen Zeitung", dem Zentralorgan für "christliche Kultur und Politik". Wer diese Kreise stört, muss aufpassen, nicht ans Feldkreuz von Exlandrat Wilfried Steuer ("Atom-Steuer") genagelt zu werden, dem alles Alternative ein Gräuel war: "Fanget se und hebet se."
Schweigeminute – für Jesus, Petrus, Paulus, Mappus
So nimmt es nicht Wunder, dass kritische Journalisten der Landespresse, die es leibhaftig gibt, am Wahlabend regelrecht aufgeatmet haben sollen, wie es aus ungewöhnlich gut unterrichteten Medienkreisen heißt. Vorbei scheint die Zeit, als derart notorische Nörgler mächtig diskreditiert oder, wie etwa unter Erwin Teufel, zu Hintergrundgesprächen meist nicht eingeladen wurden. Doch auch da könnte Ernüchterung einkehren. Wie haben etliche Journalisten innerlich gejubelt, als 1998 die Kohl-Ära – nach 16 Jahren – zu Ende war. Und wie frustriert, auch fassungslos waren sie, als sie ziemlich schnell realisieren mussten, dass so manche Matadoren der neuen rot-grünen Bundesregierung auf kritische Berichterstattung mit denselben schlichten Bestrafungsmethoden reagierten: Liebes-, sprich Interviewentzug, juristische Drohgebärden oder Ausladung bei Politreisen. Auch wenn es bei der unbotmäßigen Berichterstattung mitunter nur um die Haarfarbe des Kanzlers ging.
Die baden-württembergische CDU erlebt jetzt machtpolitisch ihr eigenes Moratorium. Die Wähler haben sie, in einem "emotionalen Ausnahmezustand", wie Stefan Mappus sagen würde, vorübergehend abgeschaltet. Am Wahlabend, bei der rege besuchten "Mappschiedsparty" der Parkschützer auf dem Stuttgarter Schlossplatz, bat eine Kabarettistin, mit der Stimme von Tanja Gönner, um eine Schweigeminute – "für Jesus, Petrus, Paulus, Mappus". Wer den politischen Schaden hat, spottet jeder Beschreibung.
Für die Landes-Grünen indes wird die neue ungewohnte Macht alles andere als eine Spaßveranstaltung. Dreißig Jahre, so hatte Winfried Kretschmann am Wahlabend unaufhörlich erinnert, habe man in der Opposition "dicke Bretter gebohrt". Die Bretter, die es jetzt zu bohren gilt, sind mitnichten dünner. Noch am Abend des Triumphes haben Stuttgart-21-Gegner der neuen Regierung ihre Forderungen lautstark ins Programmbuch geschrien: sofortiger Baustopp, Ende des Mega-Bahnprojekts. Und sie werden sie weiter treiben. Aber wenn's das bloß wäre: Auch die Atompolitik-Wende will jetzt nicht nur programmatisch, sondern pur realpolitisch umgesetzt werden. Und dabei sind die Grünen und die SPD ausgerechnet in der pikanten Rolle von Energiekonzernmanagern, als neue Chefs der EnBW, dank des milliardenschweren Mappus-Problemerbes. Und da wären noch eine solide Haushaltspolitik, eine verlässliche Wirtschaftspolitik, eine innovative Bildungspolitik und und und.
Willkommen in der Realität der Realpolitik! Winfried Kretschmann spricht Dialekt, das hört man gerne im Schwabenland. Was aber noch lange nicht heißt, dass die Dialektik des sensationellen Grünen-Erfolges längerfristig aufgehen wird. Emotionen, Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen von Bürgern wollen nicht nur erfüllt werden. Sie müssen Realität werden. Sonst schlägt Euphorie schnell in Enttäuschung um, und der Traum ist nach spätestens fünf Jahren zu Ende.
Mitunter frisst die Revolution ihre Kinder. Auch wenn sie nur ein Revolutiönchen ist.
Mehr aus der 1. Ausgabe der Kontext-Wochenzeitung gib es <link http: www.kontextwochenzeitung.de _blank>hier zu lesen.
1 Kommentar verfügbar
FernDerHeimat
am 12.02.2014Aber, immerhin, der Kontext ist bis zum heutigen Tag ein strahlender…