Hätte Steinbrück den Kleinen Finger abgespreizt wie eine affektierte Dame beim Nippen aus der Teetasse, hätte er den Zeigefinger an die Nase gelegt oder hochgestreckt wie Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner, hätte er die Hände zu einer Raute gefaltet wie seine unmittelbare Konkurrentin – die heftigen Reaktionen wären ausgeblieben. Denn diese Gesten bedeuten nichts. Sie sind allenfalls Ausdruck einer Befindlichkeit: der Verlegenheit, der Erregung, der Unsicherheit bei der öffentlichen Rede. Aber der Stinkefinger enthält eine Botschaft. Und die ist beleidigend. Für jeden, der sich von ihr angesprochen fühlt. Wenn er dem Nachbarn gezeigt wird, hat man in der Regel wenig einzuwenden.
Der Stinkefinger ist ein Symbol. Er ist die Konkretisierung einer abstrakten Aussage, die der des Götz-Zitats nahekommt – und genau besehen ist es noch eine der appetitlicheren Konkretisierungen dieser Aufforderung. Damit ein Symbol funktionieren kann, muss es konventionalisiert, also allgemein bekannt sein und mit einer Bedeutung gefüllt. Es kommt einer Verkürzung gleich und entspricht damit der medialen Entwicklung unserer Zeit: Das Symbol ersetzt das Argument, das Einfache ersetzt das Komplexe, das Bild ersetzt den Text. Wer mag sich heute noch ein Druckerzeugnis vorstellen, in dem, wie einst in der "Neuen Zürcher Zeitung" oder der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", eine ganze Seite ohne Bild auskam. Heute nennt man das abwertend "Bleiwüste", obwohl Blei nicht mehr vonnöten ist. Rückblickend muss man sagen: Die gescholtene "Bild"-Zeitung war Avantgarde. Das muss ja nicht positiv gemeint sein, der Begriff entstammt bekanntlich dem Militär. Aber es ist nur logisch, wenn heute ein leitender Redakteur von Springer zum "Spiegel" wechselt. In der Entsorgung politischer Argumentation ist dieser längst in die Spuren von "Bild" getreten.
Symbole gehören seit jeher zur Politik
Was innerhalb kürzester Zeit vergessen oder verschwiegen wurde: Steinbrücks inkriminierte Geste ist Teil eines "Spiels", dessen Regeln festgelegt waren. Beim Interview mit dem Magazin der "Süddeutschen Zeitung" darf der Befragte nur mit Gesten und Mimik, nicht mit Worten reagieren. Er spricht mit der Kamera, nicht mit dem Interviewer. Auf eine provokative Frage hat Steinbrück mit einer provokanten Geste, also angemessen geantwortet. Und zwar der Kamera, nicht, wie einige Kommentatoren eilig unterstellen, dem Wähler. Und selbst wenn dem so wäre: Welcher Knigge schreibt eigentlich vor, dass Kellner immer höflich, Krankenschwestern immer geduldig und Kanzlerkandidaten immer beherrscht zu sein hätten? Ist ihnen nicht gestattet, auch einmal die Nerven zu verlieren? Wäre nicht gerade das Bedingung menschlichen Verhaltens? Menschen sind nun einmal keine Automaten. Zum Glück.
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Waldemar Grytz
am 18.09.2013