KONTEXT:Wochenzeitung
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Hätte, hätte, Deutschlandkette

Hätte, hätte, Deutschlandkette
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Journalisten wollen geliebt werden, auch im Wahlkampf. Deshalb wird zahnlos gefragt, Politiker nicht mit ihren Widersprüchen konfrontiert. Der politische Inhalt bleibt auf der Strecke, was zählt, sind Äußerlichkeiten wie eine Kanzlerkette. Ein Plädoyer für mehr Störenfriede und gegen Schmusejournalismus.

Das Thema, über das ich reflektiere, verleitet zu grober Verallgemeinerung. Es beleuchtet das unkritische und undistanzierte Verhalten der Medien gegenüber der Politik – speziell im Wahlkampf. Die gängigen Vorwürfe sind bekannt: Journalisten machen sich gemein mit Politikern. Gern spiegeln sie sich im Glanz der Großkopfeten. Die Journaille hinterfragt deren Aussagen und Handlungen nur oberflächlich, anstatt Politiker hartnäckig bohrend mit ihren (Wahl-) Versprechungen und der Wirklichkeit zu konfrontieren. Das fördert den Trend zur Geschichtslosigkeit – "Was geht mich mein Geschwätz von gestern an?" – wie zur Politikverdrossenheit.

Krasses Beispiel: die auf Show getrimmten TV-Duells der Spitzenkandidaten im Wahlkampf und diesmal extrem der Auftritt von Kanzlerin und deren Herausforderer. Bei dieser kraftlosen Vor-Führung von Angela Merkel, Peer Steinbrück und einer Handvoll Fernsehstars blieb am Ende der politische Inhalt auf der Strecke. Was zählte, war die Deutschlandkette der Kanzlerin, die Psychologie des verzogenen Mundwinkels von schräg links nach rechts oder umgekehrt und wie sympathisch oder angriffslustig die Diskutanten jeweils aufs Publikum (Blitzumfragen) angeblich wirkten. Solche Inszenierungen entpolitisieren geradewegs anstatt das Wahlvolk aufzuklären.

Führende Parteien und ihre Kandidaten profitieren von einem oberflächlichen Schmusejournalismus, finden sie doch für ihre hohle Propaganda und ihre narzistischen Sonntagsreden allseits geeignete Lautsprecher. Trägt also die Presse eine gehörige Mitschuld am beklagten Niedergang demokratischer Werte und der zunehmenden Passivität?

Weil es die Presse und die Journalisten als Einheit nicht gibt, müsste meine Antwort auf die Vorwürfe komplex ausfallen. Denn eine Ausdifferenzierung könnte Bände füllen. Also muss ich mich auf bestimmte charakteristische Verhaltensmuster und Typen konzentrieren. Zum Beispiel kennt das enge Zusammenspiel zwischen Presse und Politik einen natürlichen gemeinsamen Nenner: den Erfolg beim Publikum. Dieser wächst spektakulär mit dem Sensationsgrad von Themen. Journalisten, die Popularität suchen, bauen also zwischen sich und den Lesern, Hörern, Zuschauern eine positive Beziehung auf. Mit dem Wunsch zur "Volksnähe" visieren Presseleute wie Politiker ein gleiches Ziel an. Sie wissen, dass ihre Gunst bei Menschen wächst, wenn sie mit guten Informationen gefüttert werden.

So wollen Sparer lieber über Chancen als über Risiken einer Geldanlage reden. Die suggestive Kraft von Unterhaltung und "positiven Nachrichten" (Frontabschnittsmeldungen) erkannten bereits die italienischen und deutschen Faschisten. Sie verbreiteten ihre Ideologie in Spielfilmen und Theatern. Militärs pflegen ihre Kriege durch falsche Siegesmeldungen zu führen. Und das Konzept von "Bild" mit Busen, Schäferhund, heiler Welt und "spaßigen" Rubriken gilt als lächelnde Umarmung der Leser. Wer über den flachen Witz lacht, fällt prompt auf den Inhalt herein, denn er nimmt ihn unbewusst wahr.

Hoch die Tassen bei Brot und Spielen

Dieses Gift der Anbiederung bringt eine neue Spezies der Presse hervor: Champagner-Journalisten. Sie bevorzugen die schönen Seiten des Lebens. Sie lieben süßliche Porträts, arbeiten Palaver mit Politikern nach einem starren Fragenkatalog zahnlos ab. Gerne bauchtätscheln sie Topkandidaten wie die Bundeskanzlerin oder den Oppositionsführer nach einem steifen Ritual in "Sommer- und Weihnachtsinterviews" oder in "Kamingesprächen". Ansonsten bevorzugen sie Themen aus Sport, Luxus und Konsum. Hoch die Tassen bei Brot und Spielen! Dabei verfallen sie leicht der propagandistischen Sprache ihrer Quellen.

Das Gegenmodell zum Gute-Laune-Onkel ist der "Wadenbeißer". Bissig greift er unbequeme Themen auf, recherchiert distanziert und legt sich – rollenbedingt – oft harsch mit Protagonisten an – häufig auch mit seinen Chefs. Dagegen sind Strahlemänner/-frauen Lieblinge der Massen wie ihrer Vorgesetzten. Ihr aufgesetzter Optimismus nützt angeblich der Auflage oder der Einschaltquote. Vor allem aber schafft er ein positives Umfeld für Anzeigen und Werbespots, wie Verlagsmanager und Marketingmanager unermüdlich rühmen.

Es ist kein Zufall, wenn Gute-Laune-Lieblinge bevorzugt Karriere machen. So verdanken die meisten TV-Talkmaster von Beckmann über Jauch bis Will ihren Aufstieg den Ressorts Sport oder Unterhaltung, obwohl die wöchentlich zur Schau gestellten Themen vorwiegend aus Politik, Wirtschaft, Finanzen, Sozialem sind. Die Diskussionsleiter sind also auf die Hilfe von Hiwis aus ihrer Redaktion angewiesen. Diese legen meist gängiges Archivmaterial der Leitmedien vor.

So kommt es, dass die Diskussionen im Fernsehen die gleichen Aspekte wie in den Printmedien wiederkäuen nach dem Motto: Die Fragen wurden schon hundertmal gestellt, nur nicht von mir. Eigene, alternative Ansätze mit kritischen Gegenthesen, wie sie den Journalismus ausmachen: Fehlanzeige. Dafür, dass es ja zu keinen Überraschungen auf der Mattscheibe kommt, sorgen die allseits dominant vertretenen Proporzpolitiker in der Runde. Gebetsmühlenhaft dürfen sie ihre längst bekannten Parolen einbringen. Manifestiert wird das System durch Intendanten und Rundfunkräte, die in vorauseilendem Gehorsam für Entmündigung und politischen Einfluss sorgen. Undemokratischer geht Journalismus kaum.

TV-Talkshows verpassen eine Gehirnwäsche

Gerade in Wahlzeiten drängen Politiker in Talkrunden. Top-Parlamentarier scheinen feste Sitze in der einen oder anderen Show zu haben – ähnlich wie die Hochwohlgeborenen im Mittelalter ihren Stammplatz in der Kirche ihr Eigen nennen durften und die Untertanen auf Abstand hielten. Heute sind TV-Talks für die Meinungsbildung im Volk weit gewichtiger als einst jene Kirchensitze für Privilegierte. Fernsehshows verpassen dem Massenpublikum eine Gehirnwäsche und setzen Woche für Woche politische Themen. Agenda Setting Function heißt dieser Machtfaktor im Fachchinesisch: Zwar kann die Medienelite dem Volk nicht vorschreiben, was es meinen und wie es handeln soll, aber sie kann maßgeblich auf die Tagesordnung und die Schwerpunkte ihres Denkens einwirken.

Von dieser Suggestion machen die Strippenzieher mächtig Gebrauch. Sie setzen Themen in die Welt, die sie für vorrangig halten – Riester-Rente, Deutschland stirbt aus, Privatisierung, Sicherheit vor Demokratie und so weiter –, dagegen verdrängen und tabuisieren sie dringliche Probleme – soziale Schieflage, Altersarmut, prekäre Arbeitsverhältnisse, Bildungsnotstand etwa. Die Platzhirsche im Fernsehen legen eine propagandistische Talkshow-Spur, und die Printmedien folgen prompt mit großem Tamtam pflichtschuldig, unkritisch und undistanziert.

Unser Handwerk kennt eine eiserne Regel: Wo keine Neuigkeit ist, die unser Publikum betroffen macht, hat Journalismus nichts zu suchen. Würden sich Presseprofis danach richten, würde das aufgeregte Geschnattere und Gegackere der Merkels, Steinbrücks und von Brüderle & Co. bald verstummen. Vor Wahlen sollten sie ohnehin klein gehalten werden. Die Menschen könnten sich aufs Wesentliche konzentrieren. Stattdessen führen Parteistrategen die eingebettete Presse am Nasenring vor wie Tanzbären.

Zum Beispiel mit Parteitagsaufmärschen, die bis ins Kleinste inszeniert werden. Weil es angeblich eine Bestimmung gibt, die den Öffentlich-Rechtlichen vorschreibt, "gebührend" (daher TV-Gebühren?) über solche Treffen zu berichten, nehmen Parteitage inflationär zu: Sie werden vorbereitet, nachbereitet und zu Sonderparteitagen erklärt. Obwohl jeder weiß, dass diese Inszenierungen inhaltlich wie personell nichts Neues bringen, werden sie reflexartig medial aufgeblasen wie Olympiaden. Statt Inhalte anzumahnen, frühere Versprechen aufzugreifen und die Versäumnisse zu analysieren, wird die Oberfläche der gebotenen Show widergespiegelt.

Artig werden Stimmungen blass reportiert, Karossen, Klamotten, Krawatten und Brillen der Politiker zum Politikum erklärt, Küsschen, Grüßchen und Tränen zu Höhepunkten stilisiert. Es menschelt. Dieser Journalismus ist so brav wie eine Schülerzeitung unter der Knute des Schulrektors. Selbst spektakuläre Prozesse werden darauf fokussiert, welches Blüschen oder Röckchen die Angeklagte (im NSU-Verfahren) anhat oder welchen Eindruck dieser oder jener Zeuge vor Gericht macht. Eine Entmündigung – von den wahren Hintergründen keine Spur.

Windhunde mutieren zu Zwergpinschern

Presseleute wollen wie Politiker geliebt werden. Daher betätigen sich manche Chronisten als Windhund-Journalisten. Sie gehen kumpelhaft auf Du und Du mit Informanten, die sie für ihre Zwecke brauchen, um als Erste dem neuesten Trend (oder Mode) nachzujagen und ihn aufzuspüren – wie ein Hund nach der Wurst. Diesen Ehrgeiz nutzen umgekehrt gewiefte Parteitaktiker aus. Sie ziehen diese hungrigen Journalisten ins Vertrauen und füttern sie mit Nachrichten und Themen, die sie in die Öffentlichkeit lancieren möchten. So wuchern Vertrauenszirkel, gepflegt in der (Partei-)Politik, in der Wirtschaft (Lobby) und von Stiftungen (zum Beispiel Bertelsmann) für anfällige Windhund- und Champagner-Journalisten. Solche Cliquen sind sozusagen Talkrunden hinter den Kulissen. Auch die so begehrten Sitze in der Kanzler- oder Ministermaschine auf Flugreisen sind Belohnungen für gleiche Gesinnung. Den Bonus gibt es nur gegen liebsame Artikel und Meinungsbildung. So mutieren Windhunde zu zahmen Zwergpinschern, gute Absicht mündet in schlechtem Journalismus – willkommen im Club!

Die Phänomene des journalistischen Niedergangs sind eingebettet in eine Kultur der Anpassung unter dem Primat ökonomischer Effizienz. Geld und Karriere sind alles – auch in der Presse. In einer Zeit, wo Menschen für einen "Job" wie Soldaten rekrutiert anstatt für einen Beruf eingestellt werden, sind Unterwürfigkeit und Anpassung gefragt. Kreatives und kritisches Handeln sprengen das System. Medien machen da keine Ausnahme.

Journalisten sind sicher nicht die Helden einer "vierten Gewalt", die sie gerne sein wollen. Das ist ein Kindermärchen. Stattdessen trieft der billige Betroffenheits-, Schock- und Stimmungsjournalismus ("Wie fühlen Sie sich?") aus jeder Zeile, ohne wirklich aufklären zu wollen. Politiker fast aller Färbungen leben damit bestens. Indes tauchen trotz Windhund- und Champagner-Journalismus hartnäckige Störenfriede auf – gottlob! Darum hat das Volk sowohl in der Politik eine Wahl als auch bei der Qualität seines Lesestoffs – und das täglich.


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6 Kommentare verfügbar

  • Winfried Plesch
    am 16.09.2013
    Antworten
    Warum sind viele "Hauptstadt"-Journalisten so angepasst?
    Ich vermute, hier liegt ein grundsätzliches Problem des menschlichen Denken und Handelns zugrunde, das sich auch mit der Hirnforschung abbilden lässt. Ich habe kürzlich gelesen, dass inzwischen nachgewiesen wurde, das sich das Gehirn von…
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