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Stadt der Künste

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"Kunst in Stuttgart" – und kein Fragezeichen! Das sitzt. Und es macht stutzig. Die Skepsis aber zerstreut das von Dietrich Heißenbüttel herausgegebene Kunstbuch obigen Titels mit Verve: Weit jenseits einer lokalstolzen Nabelschau wagt es sich auch aufs offene Feld der Gegenwart: mit energischen Interventionen in Sachen Stadtplanung. Nicht nur deshalb ist der Band auch ein politisches Buch.

Stuttgart – eine "Stadt der Künste"? Reinhard Steiner, Kunstgeschichtler und Professor an der hiesigen Universität, kennt die Vorbehalte gegen dieses Attribut. Das latente Minderwertigkeitsgefühl im Selbstbild, gerne genährt im Vergleichszwang mit "Kunst-Städten" wie Düsseldorf oder Berlin, teilt er allerdings nicht. Steiner ist "in letzter Zeit zu viel von Latenz die Rede, so als müsste Stuttgart als eine Stadt der Künste ihr Profil erst noch entwickeln". Er sieht "weitaus mehr Evidenz als Latenz" – und nimmt den Leser im Prolog des Buches zwecks einer ersten Beweissicherung mit auf einen imaginären Gleitflug über die Stadt.

Eine Vogelperspektive, aus der sich im historischen Kern und dessen barocker Weiterung manches verdichtet. Wobei sich im "frontalen Blick auf das Gesicht der Stadt" sein Urteil festigt: "Es ist nicht der geringste Vorzug von Stuttgart, dass es sich nicht auf eine durch wenige Sehenswürdigkeiten markierte Silhouette reduzieren lässt." Und wenn Steiner so "das Profil eines Terrains" konturiert, nennt er auch Methodik und Ziel des Buches: eine "Reihe von Profilschnitten, um die Topografie der Kunststadt Stuttgart kunsthistorisch und literarisch neu zu vermessen".

Maß nimmt sogleich der Herausgeber Dietrich Heißenbüttel im Überblickskapitel, wobei er den Anspruch untermauert: "Kunst in Stuttgart – Glanzlichter und Rückschläge". Es ist eine Lust, dieser kenntnisreichen Tour d'Horizon zu folgen. Denn der Kunsthistoriker und Kontext-Autor Heißenbüttel legt die plastisch präparierten Profilscheibchen nicht rein additiv hintereinander, sondern schürft nach Linien und Querverbindungen, nach fruchtbaren Kontinuitäten und herben Brüchen, jeweils vor der Folie von Zeitgeschichte und Mentalität.

Befeuert wird die Leselust durch jene Passagen, in denen sich Heißenbüttel streitbar gibt und daran auch die leitende Denkfigur des Buches erprobt: "Vergangenheit kann ein Spiegel sein, der erst ermöglicht, die Gegenwart zu erkennen ... Eben deshalb ist Geschichte und auch Kunstgeschichte nötig." Und mit Blick auf das Schlusskapitel, das sich mit den königlichen Schlossanlagen befasst, stellt der Autor fest, dass dieses "sich zwar auf den ersten Blick mit antiquierten Denkmalen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigt, die aber mitten in höchst aktuelle Debatten hineinführen: zu der Frage nach dem Verhältnis von Obrigkeit und Volk – in moderner Terminologie der Bürgerbeteiligung – und wie sich diese im Stadtbild mitteilen soll".

Eher sperrig gibt sich der Einstieg in exemplarische "Epochen"-Schnitte, wenn sich Ute Fessmann mit einem Meisterwerk der Hochgotik befasst: der Veitskapelle in Mühlhausen und dem heute in der Staatsgalerie befindlichen Prager Altar. Ein luzider kunsthistorischer Text, in dem es naturgemäß wimmelt von Fachbegriffen wie Ziborien, Retabeln und Predellen. Und wer in mittelalterlicher Ikonografie zu Hause ist, tut sich ein wenig leichter im Nachvollzug der originalen(!) Ausmalung. Die Mühe aber lohnt!

Architektonische Glanzstücke aus den 20er-Jahren

Originell ist der Ansatz beim Zeitsprung ins 20. Jahrhundert, als die Architektur der Stadt in einer kurzen Spanne, bis 1933, mit der Neuen Sachlichkeit den Aufbruch in die Moderne wagte: Überprüft wird eine Liste mit 22 Bauwerken, die 1930 von der "Bauzeitung" als "beachtenswerte Hoch- und Tiefbauten in Stuttgart" verzeichnet wurden. Erstaunlich, wie diese Bauten, von denen ein Gutteil erhalten ist, einer kritischen Revision standhalten! Und Abrisse wie der des Kaufhauses Schocken von Erich Mendelsohn dokumentieren einen "unrühmlichen Umgang mit epochaler Architektur".

Überaus verdienstvoll ist in den Epochenschnitten die Abhandlung über die "verschollene Generation": "Vergessen und verdrängt – Stuttgarter Künstler im Nationalsozialismus". Insbesondere dem Maler Oskar Zügel wird dabei ein Denkmal gesetzt. Zügel, der rechtzeitig emigrierte, hatte bereits 1934 die "Zerstörung Stuttgarts" thematisiert, mit Rekurs auf den "Höllensturz der Verdammten" von Rubens. Daneben befasst sich der Text auch mit Künstlern, die in der braunen Zeit, sei es aus Opportunismus oder Überzeugung, ihre Karrieren zu bauen wussten.

Im Kapitel "Persönlichkeiten" erfahren mit Bernhard Pankok und Eduard Fuchs zwei für das Kulturleben dieser Stadt – und für manchen Künstler darüber hinaus – eminent wichtige Männer aus dem ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts eine angemessene Würdigung. Für die unmittelbare Nachkriegszeit gilt das auch für Ottomar Domnik, den Nervenarzt und Kunstsammler. In Sachen abgelehnter Moderne eine unermüdlicher "Rufer in der Wüste".

Dass freischaffende Künstler die Stadt als reizvollen Resonanzraum ihres Schaffens wahrnehmen, jedenfalls als "Homebase", zeigen 15 kurze Porträts. Und durchaus einer Kunststadt würdig befindet das Buch die institutionelle Kunstlandschaft: mit Museen, Akademien, Künstlerhäusern und Kunstvereinen, deren Historie facettenreich gezeichnet wird. Noch spannender ist die wechselvolle Geschichte der privaten Galerien, die oft eine Leidenschaft für neue Positionen zeigen, die etablierten Institutionen abgeht. Ein absoluter Pflichtteil des Buches: das lange Interview mit dem Galeristen Klaus Gerrit Friese. Eine scharfsinnige, kritische Standortbestimmung in Sachen Kunst und Kunstmarkt – und zu dem, was "Kunst in Stuttgart" ist. Oder eben nicht ist.

Neuzeitliche Bauten in der Kritik

Etwas steif geraten die standardisierten Interviews mit Sammlern, überaus spannend dagegen die "Traditionslinien". Luzide argumentierend, wird mit Theodor Fischer und Paul Bonatz die "Stuttgarter Schule der Architektur" ins Licht gerückt: Bau-Kunst als Stadt-Bau-Kunst. Evident, wie hier die historische Methode zum Kontrastmittel in der Analyse der Gegenwart wird: "Was insbesondere im letzten Jahrzehnt in der Innenstadt, aber auch an zentralen Punkten einzelner Stadtteile, ja sogar am Killesberg geschieht, wirkt wie ein Schlag ins Gesicht der Stadtbaukunst der 'Stuttgarter Schule', wenn neuerdings, ohne Rücksicht auf stadtbildprägende Bauten, ganze Planquadrate abgetragen und durch nichtssagende Shoppingmalls ersetzt" werden. Herausragende Bestandsbauten wie die Liederhalle, der Fernsehturm oder die Landesbibliothek "wirken wie übrig gebliebene Solitäre aus einer Zeit, in der Stadtplanung noch mehr war als maximale Ausnutzung von Grundstücksfläche und Traufhöhe." Ein Text, an den man diesen Leselink pflanzen möchte: die "Civitas" des Stadtsoziologen Richard Sennett mit seinen elementaren Erkenntnissen zu einer humanen Stadt mit integralem Raum zur Entstehung multipler Öffentlichkeiten versus rasterhafter Gewinnmaximierungsmuster – als Ausdruck sehr spezifischer Herrschaftsausübung!

Den Bogen dazu spannt das Schlusskapitel – nach zwei Texten über die Konkreten, die eine elektrisierende Intellektualität in die Stadt gebracht hatten, sowie die erstmals zusammenhängend und in faszinierenden personellen Konstellationen und Kontinuitäten dargestellte "Geschichte des Leicht- und Ingenieursbaus in Stuttgart". Als grandioser Wurf, dem historischen Druck zu neuer Legitimierung von Herrschaft geschuldet, zeigen sich die königlichen Schlossanlagen: eine "von aufgeklärter Vernunft geleitete Entscheidung, auf dem bis dahin verwahrlosten alten Lustgartengelände und im Nesenbachtal bis hin zum Neckar einen Volksgarten zum Nutzen und Gebrauch der Bevölkerung einrichten zu lassen".

So fügt sich "Kunst in Stuttgart" insgesamt zu einem Denk-Stück mit epochaler Potenz. Zudem ist der im Stuttgarter Hampp-Verlag fabrizierte Kunstband ein Stück Buchkunst. Puristisch und stilvoll in der Gestaltung, die Bilder ganz im Dienste der Texte. Sehr fein auch im quadratischen Oktavformat. Der nächsten Auflage möchte man nur mehr ein Namensregister wünschen. Aber das ist hier nicht einmal das obligate Haar in der Suppe ...

Ach ja, der rückseitige Umschlag: ein Clou! Joseph Kohuths Hegel-Zitat, als "Beschriebene Maßnahme" 1994 der Stirnseite des Hauptbahnhofs eingeschrieben: "... daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist." Noch so ein Denk-Stück ...


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