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Das Schweigen des Täters

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"Die letzte Hoffnung ist hinter diesem Tor aus gelbem Holz." So beginnt der Turiner Journalist Niccolò Zancan seinen Artikel über einen 90-Jährigen, der hinter dieser Tür im brandenburgischen Wollin lebt. Der Mann ist ein in Italien rechtskräftig verurteilter Mörder, lebenslang, und jeder im Dorf weiß das.

Wollin: Wir sind auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, hinter der Linie, die einstmals betongrau durch das Land gezogen worden war und die offiziell "antifaschistischer Schutzwall" genannt wurde. Wollin ist ein Nest, das nur aus der Hauptstraße zu bestehen scheint, daran aufgefädelten Parkplätzen und weiten Feldern hinter den Häusern, die einstmals zur dorfeigenen LPG gehörten, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Der Mann, der hier in einem blau gestrichenes Zuhause wohnt, geht inzwischen selten hinaus; er wird von seinem Enkel gepflegt. Er ist in dem Dorf geboren, am 7. Juli 1923, ist hier aufgewachsen, hat in der LPG gearbeitet und war immer da, jedenfalls fast immer.

Karl Gropler ist hier bekannt. Das liegt zum einen daran, dass der Ort klein ist, und zum anderen daran, dass Gropler alt ist. Ein Mann, nach eigenen Angaben der drittälteste im Ort, schiebt seinen Rollator Richtung Dorfschänke. Natürlich kenne er den Gropler, es gebe zwar gleich drei Männer mit diesem Namen, die der Einfachheit halber Gropler eins, zwei und drei im Dorf genannt würden. Aber er wisse, von wem der Journalist spreche. Einmal sei dem Gropler zwei ein Gerichtsdokument zugestellt worden, sagt er und lacht, denn es hätte eigentlich im Briefkasten von Gropler eins landen müssen. Gropler sei noch fit, berichtet der Mann, aber ob man ihm das so glauben kann?

Niccolò Zancan hat sich von Turin aus auf den langen Weg gemacht, um von dem Ältesten der Groplers, Karl Ewald Gropler, eine letzte Botschaft zu bekommen. Sei es eine leise Bitte um Vergebung, die er von dem SS-Unterscharführer erhalten würde, oder sonst einen Kommentar. Karl Gropler war nämlich – so hat das ein italienisches Gericht in La Spezia schon 2005 festgestellt – an dem Massaker in dem kleinen Bergdorf Sant'Anna di Stazzema in der Toskana beteiligt. 

Unterscharführer bei der Waffen-SS 

Gropler gehörte seit 1942 der SS-Division "Totenkopf" an und später der 16. Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS", jener Einheit der Waffen-SS, die im Sommer 1944 in Sant'Anna vor allem die Frauen, Kinder und Alten des Ortes niedergemetzelt hat; nur wenige überlebten. Als Unterscharführer, so der Historiker Carlo Gentile, hat Gropler Tötungsbefehle an die Schützen weitergegeben und war somit unmittelbar für den Tod von vielen Zivilisten verantwortlich. "Entsprechend der im deutschen Heer traditionellen Auftragstaktik, die die Selbstständigkeit der Führer zum Prinzip erhob", hätten Leute wie Gropler, der angab, dass ihm fünf Schützen unterstellt waren, gelernt, "selbstständig und eigenverantwortlich ihre Aufgaben durchzuführen".

Karl Gropler wurde wegen des Massakers in Sant'Anna di Stazzema mit neun weiteren SS-Männern zu lebenslanger Haft verurteilt – in Abwesenheit. 

Seine Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft in Brandenburg an der Havel im Sommer 2003 waren wenig aufschlussreich. Gropler erklärte, er sei einmal bei einem Einsatz gegen Partisanen dabei gewesen, er könne sich an eine Kirche erinnern, in die er zusammen mit anderen SS-Leuten eine Gruppe von Zivilisten begleitet habe. Er wisse aber nicht, was mit ihnen dann geschehen sei. Er habe lediglich Schüsse gehört. Bei einer weiteren Vernehmung gab er zu, auf Befehlt eines Vorgesetzten einen Warnschuss abgegeben und die Kirche des Ortes durchsucht zu haben. Außer dem Pfarrer habe er aber niemanden angetroffen. Ob bei dem Einsatz, bei dem mehrere Hundert Menschen den Tod fanden, jemand erschossen wurden sei, wisse er nicht. Ein Soldat habe später gesagt: "Denen hat man es aber gegeben." 

Er und seine Kameraden haben das komplette Dorf verstummen lassen. Wo früher viele Familien lebten, stehen heute ein paar einzelne Häuser. Städter kommen am Wochenende hierher, um die Ruhe zu genießen. Die SS-Schergen selber sind ebenfalls stumm geblieben, sie haben sich hinter dem deutschen Recht verschanzt, das keine Auslieferungen nach Italien erlaubt, und sie haben wohl stumm dem Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler gedankt, der keinen großen Eifer an den Tag gelegt hatte, die alten Männer für ihre Taten noch zu belangen. Vor allem aber gab es von ihnen kein Wort der Reue, keine Bitte um Entschuldigung, kein Bedauern. Nichts.

Acht der Verurteilten sind schon tot

Nun könnte dieser alte Mann, der hier hinter dieser Tür wie immer in seinem Polstersessel sitzt, mit wenigen Worten eine große Tat vollbringen. Er könnte sagen, was noch niemand gesagt hat, schreibt Niccolò Zancan. Und was vermutlich bald auch niemand mehr sagen kann, denn die Alten sterben weg, acht sind schon tot. Außer Gropler lebt von den zehn Verurteilten nur noch Gerhard Sommer, der die Aktion damals kommandierte. Er genießt seinen Lebensabend in einem Hamburger Altenheim, aber auch er äußert sich nicht zu dem Massaker in Sant'Anna. Und auch Karl Gropler will nicht. Die Tür bleibt geschlossen.

Es war zu erwarten gewesen. Auch Zancan hatte nicht damit gerechnet, Einlass zu finden, obgleich die Hoffnung ihn die lange Reise antreten ließ. Ihr Vater sei nicht dazu bereit, mit Journalisten zu sprechen, ließ seine Tochter ausrichten, eine freundliche Frau, die den Journalisten zu einer Apfelschorle in die Dorfkneipe einlädt. Sie nimmt sich Zeit für ihn, im Gespräch wird deutlich, dass sie sein Anliegen verstehen kann. Die Enkelin ist sogar, nachdem sie von den Taten ihres Großvaters erfuhr, nach Italien gereist. Fast meint man, die Tochter schwanke, aber das Nein, es bleibt. Unverrückbar.

Man hört das, was man immer wieder bei Recherchen zu Altnazis zu hören bekommt: Dass das, was im Krieg geschehen sei, doch abscheulich sei. Und dass man den Frieden wolle, gegen Gewalt sei. Aber nein, sagt die Tochter, ihr Vater sei dement, und überhaupt, sie müsse dann wenn schon ihre Geschwister fragen, aber da sei nichts zu machen. Zancan hatte zuvor einfach bei Karl Gropler an der Tür geklingelt. Sein Enkel hatte geöffnet, aber hereingelassen hat er den Italiener nicht.

Viele Fragen, keine Antworten

Es wäre spannend gewesen, mit Gropler zu sprechen. Wie geht es ihm mit dieser Tat? Empfindet er Reue? Oder ist alles verdrängt, ausgeblendet? Und überhaupt, wie lebte es sich als Faschist in einem antifaschistischen Dorf in der DDR? War das alles nur proklamierte Ideologie oder gelebte Praxis? Viele Fragen, keine Antworten.

Ein Nachbar berichtet, dass ihm Gropler einmal seine tätowierte Dienstnummer gezeigt habe. Am Unterarm sei sie eingestochen gewesen, blaugraue Zahlen, Genaueres wisse er aber nicht mehr. Das sei schon lange her, meint er, während er in seinem Garten hinter dem Haus werkelt, vielleicht war es in den Siebzigern. Offensichtlich hat er sich nicht besonders daran gestört, einen Nazi als Kollegen zu haben. Jedenfalls hat er nicht viele Fragen gestellt, so wie fast überall, wo Altnazis aufgeflogen sind. Er hat einfach weiter in der LPG mit seinem Nachbarn zusammengearbeitet.

Am Ende dann, nach einem rund einstündigen Gespräch mit Karl Groplers Tochter, steigt Niccolò Zancan in sein Leihauto und freut sich darüber, dass man ihm einen schnittigen BMW gegeben hat, obwohl er doch einen Kleinstwagen bestellt hatte. Er drückt aufs Gas und lässt das kleine Wollin hinter sich.

 

Niccolò Zancan war im April 2013 zusammen mit Kontext-Autor Sandro Mattioli in Wollin auf Spurensuche. Im August dieses Jahres ist Karl Gropler gestorben. Wieder einer, der stumm geblieben ist.


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