KONTEXT:Wochenzeitung
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Rotsportler gegen Naziturner

Rotsportler gegen Naziturner
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Vom 26. bis 31. Juli 1933 war die Stadt Stuttgart Gastgeberin des Deutschen Turnfestes. 600 000 Menschen feierten auf dem Cannstatter Wasen und in der gerade errichteten Adolf-Hitler-Kampfbahn. Der Namensgeber wertete das Sportfest durch sein Kommen auf. Dass alles nicht ganz reibungslos verlief, lag an Bernhard Almstadt und seinen Genossen.

Organisatorisch waren die Turner im Sommer 1933 auf Kurs: Der Demokrat Alexander Dominicus war als Vorsitzender der Deutschen Turnerschaft (DT) zurückgetreten, die als Dachorganisation die Deutschen Turnfeste ausrichtete. Edmund Neuendorff rief sich zum neuen Führer der DT aus und schrieb Hitler am 16. Mai 1933, "dass die Deutsche Turnerschaft sich unter ihrer Führung Seite an Seite neben SA und Stahlhelm stellt". Neuendorff war lange Jahre Direktor der Preußischen Hochschule für Leibesübungen und Mitglied im Dachverband des bürgerlichen deutschen Sports, dem "Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen", gewesen, der sich ohne Druck der Nationalsozialisten am 12. April 1933 selbst aufgelöst hatte. Er war, wie viele Sportfunktionäre, kein Nazi, doch ein zu jeder Konzession bereiter Reaktionär. Der Hauptausschuss der DT hatte bereits im April 1933 in Stuttgart beschlossen, einen "Arier-Paragrafen" in die Satzung aufzunehmen und Juden aus den Turnvereinen auszuschließen.

Reichssportführer Hans von Tschammer-Osten redete gern und viel. In einer seiner Stuttgarter Ansprachen ging er auf eine Flugblattaktion der "roten Turner und Sportler" ein und nahm sie zum Anlass, die Fachverbände zu engster Zusammenarbeit anzuhalten. Die Vereine der sozialdemokratischen und kommunistischen Sportler, die gegründet worden waren, weil Sedanfeiern, Hurrapatriotismus, die Liebe zum Kaiser und das Dreiklassenwahlrecht, die Verachtung der Bürger für Arbeiter, nicht allen passten, waren zu dieser Zeit schon verboten. Anlagen, Vermögen, Sportgeräte waren in den Besitz der SA, Hitlerjugend oder bürgerlicher Vereine übergegangen. Im Raum Stuttgart wurden 200 Funktionäre und Mitglieder der Arbeitersportbewegung in "Schutzhaft" genommen. Rote Sportler, die einem bürgerlichen Verein beitreten wollten, brauchten Bürgen und mussten glaubhaft ihre Abkehr von dem, was Nazis "Marxismus" nannten, nachweisen.

Einige Rotsportler nahmen diese Prozedur auf sich, andere gingen in den Untergrund. Bernhard Almstadt zum Beispiel, Kopf der Aktionen der "Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit", die in Stuttgart für Aufsehen sorgten. Die "Rote Sporteinheit" war in Konkurrenz zum bürgerlichen Sport und dem sozialdemokratisch dominierten "Arbeiter-Turn- und Sportbund" entstanden.

Bernhard und seine Stuttgarter Genossen sorgten auf dem Turnfest für die Verbreitung von 80 000 Flugblättern und einer sechsseitigen Broschüre, die den doppeldeutigen Titel "Letzte Anweisungen Deutsches Turnfest 1933 in Stuttgart" trug und als Herausgeber die "Deutsche Turnerschaft" nannte. Darin stellten die kommunistischen Sportler ihre Sicht der politischen Verhältnisse im Deutschen Reich dar.

"Deutsche Turnerinnen und Turner!", heißt es da, "Im Jahr 1933 hat sich in Deutschland vieles ereignet. Die 'nationale Revolution' wurde durchgeführt. Altes wurde gestürzt, Neues wurde geschaffen. Auch die Deutsche Turnerschaft wurde von den Ereignissen nicht verschont." Dann folgen einige Bemerkungen über Tschammer-Osten und die Sätze: "Wir Arbeitersportler in der Roten Sportfront rufen allen Werktätigen in der Deutschen Turnerschaft zu: Lasst euch nicht länger von den Phrasen der Nazikommissare benebeln! Lasst euch nicht von euren Führern, den Neuendorff und Breithaupt, die alle Verordnungen der Hitlerregierung willenlos schlucken, für den neuen Imperialismus missbrauchen!" Im Text warnten die Kommunisten hellsichtig vor einem Krieg gegen die Sowjetunion. Einige Exemplare der Broschüre ließen sie in den Sonderzügen, die von überall her nach Stuttgart fuhren, liegen.

Flugblätter an Luftballons gegen Führer und Faschismus

Auf den Flugblättern stand: "Kämpft gegen Faschismus und Kriegsvorbereitung!" und "Rot Sport lebt!" und "Gebt Thälmann frei!" und "Nieder mit Hitler, denn Hitler bedeutet Krieg!" Verteilt wurden die Flugblätter mittels Luftballons. Die starteten zu dem Zeitpunkt, als Neuendorff den Reichskanzler, der gerade in der Ehrenloge Platz genommen hatte, willkommen hieß: "Die verhältnismäßig wenigen Marxisten und Juden, die sich in der Turnerschaft befanden, haben sie verlassen müssen. Der Führergedanke ist durchgeführt (...) Das alles, hochverehrter Herr Reichskanzler, mein Führer, gibt mir den Mut, Ihnen anzubieten, dass die Deutsche Turnerschaft unter Ihrer Führung Seite an Seite neben SA und Stahlhelm den Vormarsch ins Dritte Reich antritt. Sie wird es freudig tun, sie wird es, den inneren Gesetzen deutschen Turnertums folgend, mit demselben inneren Schwunge tun, mit dem die Turner der Frühzeit am ersten Reich gebaut und mit der die Turner der Kaiserzeit das zweite gestützt haben (...)." Da tönten laute "Ahs" durchs Stadion und "Ah – schön"! Der Führer und die anderen Mitglieder der Reichsregierung in der Ehrenloge blickten gen Himmel: Luftballons. Viele bunte Luftballons, in Spielwarengeschäften in Berlin erworben.

Und an den Luftballons kleine Pakete. Sie schwebten vom Neckar herüber – der Wind stand günstig. Die Päckchen gingen auf, aus den Päckchen fielen kleine Zettel, die zu Boden schwebten. Neuendorff wusste, dass im Programm keine Luftballons vorgesehen waren. Schon gar nicht mit Päckchen und Zetteln.

Eine logistische Meisterleistung. Nicht weniger gut, was Almstadt und seine Genossen auf dem Neckar ablieferten. Unter präziser Berechnung der Fließgeschwindigkeit gingen zu einem verabredeten Zeitpunkt eine große Zahl gerade noch müßig am Neckarufer liegende junge Frauen und Männer ins Wasser, mit eigenartigen Holzgebilden in der Hand. Ein paar standen Schmiere, mit Trillerpfeifen in der Hand, die trillerten nicht, denn der Feind saß im Stadion. Nicht Eingeweihte wunderten sich, dass die Badenden den Neckar ohne Holzgebilde verließen und sich nicht abtrockneten, sondern gleich in die Klamotten schlüpften und verschwanden.

Die Sportler, die auf dem Weg zum Wasen waren, erfreuten sich an den Luftballons und lasen, was aus den Paketen fiel. Sie sahen auch die Boote und Flöße auf dem Neckar und was auf ihnen stand: "Rot Sport lebt!" und "Gebt Thälmann frei!" und "Hitler bedeutet Krieg!" und "Kämpft gegen den Faschismus!" und immer wieder "Rot Sport lebt!" Obwohl die Strafverfolgungsbehörden mit allen Mitteln versuchten, der Verantwortlichen habhaft zu werden, misslang dies.

Zum Zeitpunkt der Aktion in Stuttgart war Almstadt 36 Jahre alt. Er war das 13. Kind eines Schuhmachers aus Hannover, wäre gerne Lehrer geworden, was im Kaiserreich nicht vorgesehen war. Almstadt ging als ungelernter Arbeiter in die Fabrik und schloss sich vor Beginn des Ersten Weltkriegs der sozialistischen Jugendbewegung an. 1916 wurde er Soldat, verließ im August 1918 seinen Truppenteil an der Somme, lebte als Deserteur illegal in Hannover und beteiligte sich am antimilitaristischen Kampf der Spartakisten.

In der Weimarer Republik trat Almstadt in die neu gegründete KPD ein, baute die kommunistische Jugendbewegung Niedersachsens auf, wurde 1924 Geschäftsführer der Magdeburger Zeitung "Tribüne", später ging er zum Essener "Ruhr-Echo". Er übernahm die Leitung des "Arbeiter-Sport-Verlags" in Berlin und wurde Mitglied der Reichsleitung der "Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit". Nach 1933 wurde er, zusammen mit Hermann Tops und Erich Rochler, einer der führenden Organisatoren des Widerstands der Arbeitersportler. Rochler überlebte den Nationalsozialismus und wurde Mitglied des Bundesvorstands des Deutschen Turn- und Sportbunds der DDR. Einige Monate nach der Aktion beim Sportfest in Stuttgart, am 12. Oktober 1933, wird Almstadt verhaftet und von der Gestapo gefoltert. Bei seiner Gerichtsverhandlung sagt er: "Ich bin Kommunist, ich bleibe Kommunist, bis man mir bewiesen hat, dass meine Überzeugung falsch ist."

Thälmann-Befreiungsaktion wird verraten

Er bekommt 25 Monate Zuchthaus und sitzt die Strafe in Luckau ab. Wegen guter Führung vorzeitig entlassen, nimmt er die illegale Arbeit wieder auf. Im April 1942 schließt sich Almstadt, der in einer Gummifabrik in Berlin-Wendenschloß arbeitet, der Widerstandsgruppe um Anton Saefkow und Franz Jacob an. Eines ihrer Ziele ist, den KPD-Vorsitzender Ernst Thälmann, der im Gerichtsgefängnis Hannover sitzt, bis er im August 1943 ins Zuchthaus Bautzen überführt wird, zu befreien. Durch Verrat fliegt die Saefkow-Gruppe auf, am 12. Juli 1944 wird Almstadt, der inzwischen in Grottau, Sachsen, arbeitet, verhaftet. Am 19. September 1944 verurteilt ihn der 1. Senat des Volksgerichtshofs unter Vorsitz von Martin Stier zum Tod.

Am 6. November 1944 wird Almstadt im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. In seinem letzten Brief, am Tag seiner Ermordung an Frau und Tochter gerichtet, schreibt Almstadt: "Meine liebe Erna, liebste Susi! Es ist soweit. Es heißt Abschied nehmen. Die Fesseln hindern sehr. Trotzdem einige Worte. Ich habe Euch großen Kummer gemacht, und Ihr habt mir nur Liebe und Zuneigung geschenkt. Seid mir deshalb nicht böse, ich wollte nur das Gute. Vergeht auch nicht in Trauer. Euer Leben muss weitergehen, und ich wünsche Euch für die Zukunft viel Glück und Freude. Der Tod kann auch ein Erlöser sein. Ich sehe in ihm keinen Feind, sondern einen guten Mann, der einen furchtbaren Zustand beendet. Grüßt alle Verwandten und Freunde von mir. Euch gilt mein letzter Atemzug, er ist erfüllt voller Dankbarkeit für Dich. Lebt wohl! Kopf hoch! Euer Bernd."


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1 Kommentar verfügbar

  • Eberhard Boeck
    am 05.07.2013
    Antworten
    Vielen Dank für diesen berührenden Text. Den Geschichtslehrern an Stuttgarter Schulen sehr zu empfehlen. Da viele von diesen Lehrern Kontext nicht kennen oder lesen, wäre ich gerne dabei, diesen Text zu versenden, wenn die Redaktion von Kontext helfen könnte.

    Herzlichst
    Eberhard Boeck
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