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Stochern im Sumpf

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Keine V-Leute beim Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) – so beruhigten "Tagesschau" und "heute" am 4. Juli ihr Publikum, nachdem erstmals Abgeordnete des Bundestags in die Akten des Verfassungsschutzes schauen konnten. Aber ist das wirklich so?

Keine V-Leute beim Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) – so beruhigten "Tagesschau" und "heute" am 4. Juli ihr Publikum, nachdem erstmals Abgeordnete des Bundestags in die Akten des Verfassungsschutzes schauen konnten. Aber ist das wirklich so?

Wenige Tage zuvor war bekannt geworden, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Akten vernichtet worden waren über V-Leute innerhalb der Neonazi-Szene in Thüringen und Sachsen. Akten, wie es heißt, über eine gemeinsame Operation von BfV, dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) namens "Rennsteig". Mit dieser Operation sollten ab 1996 Informanten in der rechtsextremen Szene angeworben werden. Die Aktenvernichtung hatte stattgefunden am 11. November 2011, nachdem Ermittlungen ergeben hatten, dass Leute dieser Szene, unter anderen Uwe Mundlos, Uwe Bönhardt sowie Beate Zschäpe, an zehn Morden beteiligt gewesen sein könnten.

Am Abend des 4. Juli traten die fünf Obleute des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag vor die Presse, um über ihre Akteneinsicht Auskunft zu geben. Um 20 Uhr berichtete die "Tagesschau", Sprecherin Susanne Daubner eröffnete den Beitrag mit den Worten:

"Kein Mitglied der Neonazi-Gruppe NSU und niemand aus ihrem näheren Umfeld haben nach bisherigen Erkenntnissen für das Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet. Das hat heute der Untersuchungsausschuss des Bundestages mitgeteilt. Die Obleute hatten zuvor ungeschwärzte Akten des Geheimdienstes einsehen können, die über V-Leute in der rechtsextremen Szene angelegt worden waren."

Alle Obleute der fünf Parteien CDU, SPD, FDP, Grünen und Linke hatten vor der versammelten Presse Statements abgegeben und Fragen beantwortet. Die "Tagesschau" wählte die Stellungnahmen des CDU-Obmannes Clemens Binninger (Wahlkreis Böblingen) und der SPD-Obfrau Eva Högl (Berlin) aus und präsentierte folgende Ausschnitte:

Clemens Binninger: "Keiner dieser acht V-Leute hat etwas mit den Personen zu tun, gegen die ermittelt wird oder die Bestandteil des NSU sind. Insofern ist an dieser Stelle sicher das Vertrauen auch wieder hergestellt." (Binninger war bis 2002  Referent für Innen- und Sicherheitspolitik im Stuttgarter Staatsministerium.)

Eva Högl: "Es war sehr wichtig, diese Akten zu sehen, um Verschwörungstheorien auch den Boden zu entziehen. Das war ein wichtiger Beitrag für unsere Arbeit im Untersuchungsausschuss."

In der Pressekonferenz des Untersuchungsausschusses gab es allerdings Auskünfte, die vor allem eines zeigten: die Ohnmacht der Abgeordneten gegenüber den Geheimdiensten. Insofern ist das Folgende auch ein Dokument der Hilflosigkeit, das Thomas Moser für die Kontext:Wochenzeitung zusammengestellt hat.

Sebastian Edathy: Es waren die Akten, die der Vernichtungsaktion, der sehr überraschenden, im November zum Opfer gefallen sind. Foto: picture alliance/dpaSebastian Edathy (SPD): "Wir hatten heute Gelegenheit, Einblick zu nehmen in insgesamt etwa 45 Aktenordner. Es ist klar, dass wir dort keine vollständige Durchsicht praktizieren konnten. Das waren Ordner, die die sogenannte Operation Rennsteig betroffen haben, Befunde zum Thüringer Heimatschutz, und es waren ungefähr 18 Ordner zu Personen, sowohl zu Anwerbeversuchen des BfV, was den Thüringer Heimatschutz betrifft, als auch zu in der Tat verpflichteten V-Leuten. Es wurden vom BfV im Rahmen der Operation Rennsteig insgesamt acht V-Leute geführt. Es gab diesbezüglich acht Akten. Eine einzige Akte haben wir, dem Augenschein nach wenigstens, vollständig vorgefunden, die anderen sieben Akten waren teilrekonstruiert. Es waren die Akten, die der Vernichtungsaktion, der sehr überraschenden, im November zum Opfer gefallen sind. Aus diesen sieben Akten und aus der vollständigen Akte hat sich ergeben, dass man sagen kann: Keiner der durch das BfV geführten V-Leute findet sich auf der Liste der beschuldigten Personen, die als Mitwisser oder gar Angehörige des NSU gelten."

Clemens Binninger (CDU): "Die Gelegenheit, die wir heute bekommen haben, ist einmalig in der Geschichte der Innenpolitik in Deutschland. Wir bedanken uns auch noch mal bei dem Bundesinnenminister, der uns die Möglichkeit eingeräumt hat. Sie war notwendig, weil die Schredderaktion das Vertrauen in die Arbeit der Sicherheitsbehörde nachhaltig zu erschüttern drohte. Deshalb mussten wir uns persönlich davon ein Bild machen: Sind diese acht V-Leute relevant? Sind sie Personen, gegen die ermittelt wird? Sind sie sogar Teile des NSU? Man kann als Ergebnis festhalten: keiner dieser acht V-Leute hat etwas mit den Personen zu tun, gegen die ermittelt wird oder die Bestandteil des NSU sind. Insofern ist an dieser Stelle sicher das Vertrauen auch wieder hergestellt."

Eva Högl (SPD): "Ich begrüße, dass wir heute die Möglichkeit hatten, die Akten beim BfV einzusehen. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, die damit einhergeht, dass wir jetzt die Klarnamen von Vertrauensleuten kennen. Es war sehr wichtig, diese Akten zu sehen, um Verschwörungstheorien auch den Boden zu entziehen. Ich kritisiere, dass die Akten, die wir heute ungeschwärzt gesehen haben, nicht identisch sind mit den geschwärzten Akten, dergestalt, dass es sehr schwer war, einzelne Passagen abzugleichen. Deshalb weiß ich schon heute, dass ich auf jeden Fall wieder in die Akten schauen muss, wenn wir uns den Vorgängen in Thüringen widmen."

Hartfrid Wolff (FDP, Wahlkreis Rems-Murr): "Bisher habe ich noch kein vernünftiges Gesamtbild. Ich brauche weitere Informationen, denn an der Stelle, was wir jetzt einsehen konnten, war noch nicht ausreichend Zeit, um sich wirklich vertieft auch mit den Akten zu beschäftigen, auch mit den rudimentären Akten. Aus meiner Sicht muss auch noch genau überprüft werden, ob gerade die anderen Beteiligten bei der Operation Rennsteig, wie beispielsweise das LfV Thüringen oder auch der MAD, hier noch Dubletten dieser Akten haben. Aus meiner Sicht werden jetzt noch deutlich mehr Fragen zu beantworten sein."

Petra Pau (Linke): "Es kann natürlich keine Rede von einer Transparenzoffensive des BfV sein. Wir haben heute unter erschwerten Bedingungen Akten gesichtet und zum Teil eingesehen, von denen die meisten uns längst hätten zur Verfügung stehen müssen, sodass wir sie auch ordentlich hätten auswerten können. Es bleiben natürlich Fragen einschließlich der, ob denn das stimmt, was ich in der Presse gelesen habe, dass bestimmte Quellen gar nicht Bestandteil der offiziellen Aktenführung geworden sind."

Wolfgang Wieland (Grüne): "Es ist klar: diese Akten sind nur bruchstückhaft rekonstruiert worden. Es bleibt bei dem Skandal, dass dieses Schreddern überhaupt passierte. Eine vollständige Entwarnung kann ich jedenfalls nicht geben. Es war der Presse zu entnehmen, dass aus operativen Gründen Anwerbefälle nicht in die Datei aufgenommen worden sein sollen. Ich bilde mal ein Beispiel: Wenn ich keine vollständige Passagierliste eines Flugzeuges habe, dann kann ich auch nicht sagen, wer alles in dem Flugzeug gesessen hat."

Journalistenfrage: "Wenn Sie alle sagen, dass die acht nicht zur NSU gehört haben, sondern zu Unterstützern, lässt sich dann sagen, wie nahe sie dem Kreis gestanden haben?"

Hartfrid Wolff (FDP): "Ich habe den Eindruck, dass wir hier noch erheblichen Nachfragebedarf haben."

Sebastian Edathy (SPD): "Nach dem, was ich jedenfalls sichten konnte, tauchen in den Akten an verschiedenen Stellen mehr V-Leute-Namen aus dem Umfeld des NSU auf. Es ist natürlich schwierig zu bewerten, was da an Informationsvermittlung wirklich erfolgt ist, weil Akten eben alles andere als vollständig sind, bis auf die achte Akte. Da wird's natürlich Nachfragebedarf geben. Ich gehe davon aus, dass das Bundesministerium uns weiterhin, zumindest bei der Außenstelle des Verfassungsschutzes in Berlin, die Gelegenheit geben wird, dort vertieft Einblick zu nehmen."

Journalistenfrage: "Woher wissen Sie denn, dass Sie alle relevanten V-Leute-Akten einsehen konnten?"

Sebastian Edathy (SPD): "Ich kann Ihnen natürlich nicht sagen, ob ich alle Akten gesehen habe, die es hätte geben müssen."

Journalistenfrage: "Haben Sie kein Instrumentarium, das unabhängig zu überprüfen?"

Sebastian Edathy (SPD): "Hat da jemand eine Idee?"

Wolfgang Wieland Grüne): "Wir sind unabhängig, und wir überprüfen!"

Eva Högl (SPD): "Ja, eben."

Wolfgang Wieland (Grüne): "Nur: eine geschredderte Akte ist nicht mehr da. Aber die Frage war ja, die vor allem ich auch immer gestellt habe: Sind das Mundlos, Bönhardt und Zschäpe? Und sie sind es nicht in den geschredderten Akten! Mehr kann ich heute dazu nicht sagen."

Journalistenfrage: "Aber Sie müssen doch wissen, wie groß die NSU-Gruppe war, um sagen zu können, es sind V-Leute dabei gewesen oder nicht."

Wolfgang Wieland (Grüne): "Ja, vielleicht wissen Sie's. Wir wissen's nicht. Das BKA weiß es auch nicht. Das BKA untersucht und klopft Tatorte ab. Sorry, die NSU hat bei uns kein Testament hinterlassen."


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