"Mein liebster Papa, hier an dieser Schule in Kolumbien ist alles anders, als ich es mir jemals vorgestellt hatte: Kinder, die ich unterrichte sind acht-, neun- und zehnjährige Mädchen, die schon als Prostituierte arbeiten mussten. Viele sind bereits im Kindesalter Mütter geworden. Und manche der Jungs haben schon einen Einsatz als Kindersoldaten hinter sich."
So beginnt eine der ersten Mails, die mir meine 19-jährige Tochter von ihrem einjährigen Freiwilligendienst in einem Straßenkinderprojekt aus Südamerika schreibt. Sie arbeitet im Colegio de las Aguas in Montebello. Das ist eine Schule, die eine private Initiative mitten in einem Flüchtlingsgetto gebaut hat, finanziert aus deutschen Spendengeldern. Montebello befindet sich im Süden von Kolumbien in der Nähe von Cali. Unterrichtet werden dort Kinder mittelloser Bürgerkriegsflüchtlinge von der Vorschule über die Grundschule bis zur Oberstufe. Zum Einsatz gehört auch die Betreuung und Hausaufgabenhilfe am Nachmittag. Die meisten Kinder wachsen ohne Eltern auf. Die Jugendlichen bekommen an dieser Schule eine Ausbildung, die aufgrund der großen Armut sonst nie möglich wäre.
Der Einsatz ist Teil eines Freiwilligenprojekts der Frankfurter Organisation Schule fürs Leben im Rahmen von "weltwärts" des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Meine Tochter unterrichtet nicht nur in diesem Slum, sondern auch an der Deutschen Schule Santiago de Cali, mit der das Colegio de las Aguas kooperiert. Dadurch erlebt sie die unterschiedlichen Welten hautnah: in Montebello Elend und Armut, in der deutschen Schule Luxus pur und ein Paradies mit Schwimmbad. Zur Schule im Flüchtlingscamp kommen die Kinder jeden Tag nach einem beschwerlichen Fußmarsch über staubige Straßen. In die deutsche Schule werden die Kinder mit Leibwächter und Fahrer gebracht. Die Schule selbst liegt, von schwer bewaffneter Miliz gesichert, hinter fünf Meter hohen Mauern.
Ein Einsatz an den Grenzen der Belastbarkeit
Über Skype telefoniere ich regelmäßig mit ihr und will wissen, wie sie mit den Kindern zurechtkommt, wie sie das alles durchhält. Sehr gut, sagt sie. "Natürlich ist dieser Einsatz hart und geht oft an die Grenzen meiner Belastbarkeit, aber ich profitiere hier in Kolumbien doch auch persönlich von dieser Arbeit. Unter dem Strich bekomme ich bestimmt mehr, als ich gebe." Sie erzählt mir, dass sie in ihrer Freizeit zwischen Schülern der deutschen Schule und denen des Colegio de las Aguas in Montebello einen Austausch organisiert. Damit sollen die kolumbianischen Jugendlichen aus beiden Schichten Einblicke in und Verständnis für die jeweils anderen sozialen Verhältnisse bekommen. Es entstanden Kontakte, die zwischen den Eltern nie möglich gewesen wären.
Während ihrer Schulzeit hatte meine Tochter immer wieder mit dem Gedanken gespielt, später Lehrerin zu werden. Durch ihren Freiwilligeneinsatz hatte sich dieser Vorsatz offensichtlich gefestigt. Deshalb war ich nicht verwundert, als sie mir sagte: "Jetzt weiß ich, dass meine Entscheidung, nach der Rückkehr nach Europa das Lehramtsstudium aufzunehmen, ganz bestimmt die richtige ist."
Eigentlich eine ideale Voraussetzung für ein Lehramtsstudium und zugleich eine gute Vorbereitung für diesen Beruf. Aber nur eigentlich. Zwar nimmt sie nach ihrer Rückkehr aus Kolumbien ihr Studium an der Universität Mannheim nahtlos auf, erfährt aber nach zwei Semestern, dass sie vorher ein Schulpraktikum hätte absolvieren müssen. Mit dem sollte sie herausfinden, ob sie "für den Beruf als Lehrer geeignet ist und Freude am Umgang mit Kindern und Jugendlichen habe".
In Hessen kein Problem
Nun könnte man annehmen, dass eine solche Auslandserfahrung in einem sozialen Brennpunkt für die spätere Tätigkeit als Lehrerin nützlich ist. Und dass solche Erlebnisse für angehende Studenten eine gute Selbstprüfung darstellen, herauszufinden, ob der Schulmeisterberuf für sie der richtige ist. Doch hier gilt nicht Menschenverstand, sondern § 9 der GymPO I. Dort hat das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg in schönstem Behördendeutsch geregelt, wer im Schwabenland zum Studiengang Lehramt an Gymnasien zugelassen wird. Nämlich nur diejenigen, die bis spätestens zum Beginn des dritten Semesters nachweisen können, dass sie "in den Zeiträumen von Juni bis Juli und von Mitte Februar bis Mitte April" als Orientierungspraktikum zwei Unterrichtswochen an einer baden-württembergischen Schule hospitiert haben.
Dass es auch anders geht, zeigt das Nachbarland Hessen. Auch dort sind alle Lehramtsstudenten verpflichtet, ein vierwöchiges Orientierungspraktikum abzulegen. Dieses kann in einer Schule oder in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe geschehen, sagt Professor Rolf-Dieter Postlep, der Präsident der Universität Kassel. "Weitere Vorgaben gibt es nicht. Ein einjähriges Praktikum an einer deutschen Schule im Ausland würde an der Universität Kassel selbstverständlich anerkannt."
Wie soll ich meiner Tochter erklären, dass ihr ganzes Jahr Lehrertätigkeit im Ausland, noch dazu in einem Projekt der Bundesregierung, in Baden-Württemberg weniger wert sein soll als zwei Wochen Absitzen in der letzten Bank in einer Schule im Schwarzwald oder auf der Schwäbischen Alb? Deshalb schreibe ich Professor Hans-Wolfgang Arndt, dem Rektor der Universität Mannheim, warum das in Mannheim nicht ebenfalls möglich ist. Die Pressestelle teilt mir mit, der Prorektor werde meine Frage beantworten. Der müsse dafür allerdings erst eine Sitzung eines Prüfungsausschusses einberufen, der über diese Frage beraten werde. Und das dauert.
"Die Auskunft war nicht ganz exakt"
Deshalb wende ich mich an die Pressestelle des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart. Dort schickt man mir den ausführlichen Text der "Handreichung zum Orientierungspraktikum als Voraussetzung für die Zulassung zum Studiengang Lehramt an Gymnasien" und schreibt dazu: "Für das Orientierungspraktikum ist ein Praktikum im Ausland nicht sinnvoll und nicht vorgesehen. Wie Sie der Anlage entnehmen können, ist die Anrechnung einer Lehrtätigkeit im Ausland nicht möglich." Oder übersetzt: "So ist die Vorschrift, so war es bei uns schon immer. Warum sollten wir uns ändern?"
Heißt das, wer in Mannheim studiert, der Stadt, in der die neue SPD-Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer in den letzten Jahren als Bürgermeisterin für Bildung, Jugend, Sport und Gesundheit gewirkt hat, dürfte zum Praktikum nicht einmal über die Brücke nach Ludwigshafen fahren, denn das wäre Rheinland-Pfalz?
Jetzt starte ich meinen letzten Versuch, Aufklärung zu bekommen, und frage die Ministerin selbst, ob künftige Lehrer, die einen Blick über die Landesgrenze werfen und ihren Horizont erweitern, in ihrem Ministerium und ihrem Bundesland nicht gewünscht sind. Nach einem Monat dankt die Ministerin für meine Anfrage und lässt einen Herrn Ministerialdirigenten antworten. Dem spröden Text merkt man an, wie schwer dem Beamten diese Antwort gefallen sein muss: "Zur Zeit Ihres Anrufs war die zuständige Referentin nicht im Hause, daher war die Auskunft nicht ganz exakt. Eine regionale Beschränkung des Orientierungspraktikums gibt es nicht." Damit seien auch Schulen in anderen Bundesländern bzw. im Ausland zugelassen. "Damit wird Ihrem Anliegen Rechnung getragen."
Daran, dass so eine Antwort möglich ist, hat meine Tochter nicht mehr geglaubt. Deshalb leistet sie jetzt noch einmal ein Schulpraktikum in Baden-Württemberg ab. Aber gelernt hat sie, dass es länger dauert, bis ein Apparat umdenkt. Schön, dass an der Ministeriumsspitze in Stuttgart der gesunde Menschenverstand Einzug gehalten hat.
Der Autor Uli Röhm, ein gebürtiger Schwabe, lebt heute in Rheinhessen in der Nähe von Mainz. Er ist Wirtschaftsredakteur und ehemaliger Fernsehjournalist, der vor über 25 Jahren das ZDF-Magazin "Wiso" mit entwickelt und gegründet hat.
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