Betty Ndayisaba umklammert eine Wasserflasche. "Nicht an die kleinste Geste meiner Eltern erinnere ich mich. Nichts!" Die Dreiundzwanzigjährige mit dem eckigen schwarzen Brillengestell blickt starr auf die verschlossene Flasche. Sie dreht sie auf den Kopf, drückt einmal fest zu und platziert sie wieder hinter dem Verkaufstresen. Luftblasen wirbeln nach oben. Als Ndayisaba sie sieht, bricht sie in ein heiteres Glucksen aus. "Ich habe so viele Zukunftspläne im Kopf. Für die meisten brauche ich mehr Geld. Aber das mit dem Laden, das ging sofort." Die zierliche junge Frau mit den langen geflochtenen Haaren gehört seit einigen Wochen zu den wenigen Händlerinnen Kigalis, die Ersatzteile für europäische Automarken anbieten.
Ihr heller Verkaufstresen duftet nach frisch geschlagenem Holz. Dahinter glänzen in einem weißen Regal Vorderlichter, Bremsklötze und Ladegeräte für Batterien. Als sich Ndayisaba nach vorne bückt, um drei Radlager in ein Fach zu stapeln, tanzt an ihrer Halskette ein Blumenanhänger schwungvoll im Kreis. Blumen sind auch auf ihrer Bluse. Weiß, rosa und blau. Dazu eine leuchtend orange Jeans. Ihr Bruder hat Tage, an denen er das Haus nicht verlässt. Sitzt nur zu Hhause und starrt in die Luft. Bei ihr kommt das nie vor. "Meine Verwandten erzählen: Wenn alles um mich herum im Chaos versank, saß ich, die Kleine, immer noch da und war zufrieden."
Dass Verwandte oder Nachbarn ihr über ihre Kindheit berichten, gehört zu Ndayisabas Leben wie die Zukunftsideen in ihrem Kopf. Die Nachbarn haben ihr zugeflüstert, dass sie ihrem Vater ähnlich sieht. Haben ihr erzählt, dass ihr Vater einen guten Posten bei den Vereinten Nationen hatte und ihre Familie keine Geldsorgen kannte. Auch das Foto der Eltern haben die Verwandten für sie aufgetrieben. Aber egal wie oft sie es sich anschaut: Die Erinnerung an die beiden Unbekannten kommt nicht zurück.
Vergessen hat die Dreiundzwanzigjärige ihre ersten Lebensjahre nicht. Doch die Bilder der Vergangenheit sind wie Wolkenfetzen. Tauchen mal hier und mal dort am Horizont auf. Festhalten kann Ndayisaba sie nicht.
Drei Jahre alt ist das Mädchen mit dem Wasserkanister. Wenn es mit den Fingern gegen den leeren Plastikbehälter stößt, klappert es ein wenig. Zusammen mit ihren zwei älteren Brüdern stapft Betty bergauf in das Stadtviertel Nyamirambo. Die Ananas-Verkäuferinnen am Straßenrand sind verschwunden. Auf der Stirn der Passanten zeichnen sich scharfe Falten ab. "Stopp", schreien die Leute an der Straßensperre den Kindern zu. "Ihr seht ja aus wie der Tutsi-Führer Kagame. Was spaziert ihr hier durch die Gegend?" Groß und dünn sind die Tutsi, sagt man in Ruanda, feine Gesichtszüge, schmales Gesicht. So sehen Betty und ihre Brüder aus. Seit im Land ein Genozid tobt, entscheiden das Aussehen und die Angabe einer Ethnie im Pass über Leben oder Tod eines Menschen.
Ein junger Priester schaut kurz zu Boden, schluckt und stellt sich dann zu den Kindern. "Halt! Es sind doch nur Kinder. Lasst sie am Leben!" Es ist das zweite Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden, dass Betty und ihre Brüder mit dem Leben davonkommen. Die Leichen der Eltern und des ältesten Bruders sind erst seit wenigen Stunden kalt. Jetzt sollen die Kinder an die Reihe kommen, doch die Männer der Hutu-Miliz Interahamwe suchen sie vergeblich.
Wie Vater und Tochter
In seinem Haus in Nyamirambo richtet der katholische Priester für die Geschwister einen Schlafplatz her. Er füttert die kleine Betty und wäscht den rötlich-braunen Staub von dem erschöpften Kinderkörper. Todesschreie durchziehen die unruhige Nacht. Der junge Geistliche wiegt das Kind so lange in seinen Armen, bis es einschläft.
"Er ist mein Papa", sagt Ndayisaba und ihre sonst leise Stimme klingt so kraftvoll, als ob ihre Lunge für diese Aussage die dreifache Menge an Luft aufgenommen hätte. Auch zwanzig Jahre nach dem Genozid wissen die beiden immer, was im Leben des anderen gerade passiert. Ist er in Kigali, schlendern sie durch die Stadt und bewundern die glanzvollen Geschäfte und Hotels, die aus den Großbaustellen in den Himmel wachsen. Wo einst die gefürchteten Straßensperren waren, lässt sich nur noch erahnen. Im Jahr 2014 müssen die Passanten nur die Grünstreifen neben den sorgfältig angelegten Bürgersteigen meiden. Wer sie betritt, wird scharf zurechtgewiesen.
Den Bauboom in der Innenstadt nimmt Ndayisabas Retter inzwischen aus der Besucherperspektive wahr. Nachdem er während des Genozids miterlebt hat, wie Geistliche ihr Foltern und Morden mit dem Willen Gottes begründeten, legte er das Priesteramt nieder und zog ins Ausland. "Das ist meine Tochter", antwortet er Gaffern, die sich wundern, dass ein Mann von Mitte vierzig mit einer unverheirateten jungen Frau durch die Stadt zieht.
2 Kommentare verfügbar
Tillupp
am 17.04.2014