Wie Computer-Nerds mit viereckigen Augen vom Dauersurfen im Netz sehen Jürgen Steinhilber und Ilona Raiser nun wirklich nicht aus. Anzug und Einstecktüchlein auf der einen, edles Tuch und sorgfältig frisiertes Silberhaar auf der anderen Seite. Nach längerem Hin und Her in Sachen Terminvereinbarung finden sich der Piratennachwuchs zum Kontext-Gespräch ein, den ehemaligen Bundesvorsitzenden Sebastian Nerz im Schlepptau. Auf dessen Anwesenheit hat Steinhilber bestanden, weil Journalisten "doch so Fragen stellen" und nur der Bundespirat erklären könne, was in Berlin so Sache ist. Das nämlich ist für Nicht- und Neupiraten unverständlich: Eine Partei zerlegt sich selbst, und das im Jahr der Bundestagswahl.
Davon aber wollen die beiden nichts wissen, schließlich haben sie sich eben erst aus der sinkenden Nusschale der einst größten Tübinger Ratsfraktion auf den Piratenkahn gerettet: Beide Neupiraten sind von den behäbig-konservativen Unabhängigen Freien Wählern (UFW) zur Nerd- und Netzpartei übergelaufen – nach jahrelangen fraktionsinternen Streitereien, die bevorzugt öffentlich ausgetragen wurden. Was den Niedergang der UFW noch deutlich beschleunigt haben dürfte und deutliche Parallelen zu den Scharmützeln der Berliner Oberpiraten aufweist.
"Das Programm der UFW war gut dehnbar, da konnte man viel hineininterpretieren", lobt Steinhilber, der von den Tübingern ob seiner nicht gerade überragenden Körpergröße despektierlich "Watsch" oder "laufender Meter" genannt wird. Irgendwann hatte der 62-Jährige trotzdem die Nase voll vom Dauerknatsch mit dem mittlerweile verstorbenen Fraktionschef Dieter Barth, schmiss sein Mandat bei der UFW hin, vertrat im Gemeinderat nur noch sich selbst und machte sich zeitnah auf die Suche nach einem neuen politischen Hafen. Nach Gesprächen mit Sebastian Nerz hat er dann bei den Piraten angedockt. "Die piratische, nein, piratige Politik war das Passendste", sagt Steinhilber und schwärmt von der schönen neuen digitalen Welt.
Er sei zwar ein Stammtischmensch, aber "natürlich im Internet drin". Dort verfolge er die Diskussionen auf den Piratenpanels und sei in den Parteiforen unterwegs. "Es macht Spaß zu schauen, wie der Stand der Diskussion ist", sagt er. Bei den Piraten sei "immer alles im Fluss", begeistert er sich, alles werde immer und immer wieder neu diskutiert, abgeklopft, umdefiniert. Prima sei das, zumal für einen politischen Freigeist, wie er selbst einer sei. Frei schwimmend im Gemeinderat, beschreibt er seine Politik der vergangenen Jahre.
Ilona Raiser hingegen saß nach diversen Fraktionsaustritten und Nachrück-Aktionen irgendwann alleine für die UFW im Gemeinderat – und sah sich in der politischen Bedeutungslosigkeit versinken. "Als Alleinperson ist es aufgrund meiner Unkenntnis der Strukturen des Gemeinderats und meiner beruflichen Belastung nicht möglich, politisch mitzugestalten", sagt sie. Plan- und fraktionslos drohte die politische Bedeutungslosigkeit. Also schloss sich die 60-Jährige mit Steinhilber zur ersten Piratenfraktion auf kommunaler Ebene zusammen. Womit den beiden ein veritabler politischer Coup gelang: Im Tübinger Gemeinderat sitzt nun eine Partei, die keiner gewählt hat.
Macht nichts, findet Raiser: Das Programm von UFW und Piraten sei nahezu deckungsgleich. Zur ersten Pressekonferenz als Tübinger Piratenfraktion hatte sie gemeinsam mit der Piraten-Kreisvorsitzenden Jasenka Wrede einen Abgleich des politischen Fahrplans vorgenommen. 18 von 21 UFW-Punkten fanden sich bei den Piraten wieder. Zum Beispiel "Erhalt und Schaffung von Einkaufsmöglichkeiten und Infrastruktur".
Das ist wichtig für eine Frau, die früher mal in der CDU-Mittelstandsvereinigung aktiv war und dann nach einer Familienpause – Raiser hat fünf mittlerweile erwachsene Kinder – zur UFW wechselte. Warum eigentlich? "Sie bringen mich ganz schön durcheinander", sagt sie, knetet die Hände, als wolle sie die Antwort aus ihren Knöcheln quetschen, und erklärt, dass sie eben ohne parteipolitische Brille unterwegs sein wollte.
Raiser macht, was Raiser will, Parteiprogramm hin oder her. So stehen die Piraten nicht im Verdacht, Anhänger der katholischen Kirche zu sein. Im Gegensatz zu Raiser. Sie ist seit vielen Jahren kirchlich engagiert, zweite Vorsitzende der Kirchengemeinde, Mitglied des Zentral-Kommitees, war mal Diözesanrätin. Natürlich sei die Kirche keine demokratische Institution, sagt die Frau, die den Erhalt von Demokratie und bürgerlicher Freiheit als Hauptgrund ihres politischen Engagements angibt. Aber, und da klingt sie fast schon wie eine Netzaktivistin, die Menschen seien "durch ihren Glauben direkt mit Gott vernetzt".
Ein Satz, der Sebastian Nerz einen Seufzer entlockt. Der Bundespirat sitzt neben seinen kommunalen Kollegen, schaut mal in die Luft, mal auf den Boden und wirkt reichlich angespannt. Die Raiser'sche Lobeshymne auf die christliche Lehre und die katholische Kirche aber geht unverdrossen weiter. Natürlich bekomme sie das unter einen Hut, die Kirche und die Partei: "Das habe ich mir sehr wohl überlegt und entschieden, dass ich mich in die Höhle des Löwen begebe. Nur so kann ich politischen Einfluss nehmen." Klingt nach heroischer Selbstüberwindung zum Wohle der Allgemeinheit.
Genug jetzt, findet Nerz und bewahrt die übereifrige Mitstreiterin mit einem Impuls-Referat über den Laizismus zumindest temporär vor der endgültigen Selbstdemontage in Sachen politischer Glaubwürdigkeit. Eine Frage, die sich Raiser ohnehin nur gestellt hätte, "wenn ich zu den Linken gegangen wäre". So aber könne sie ihre politischen Statements eins zu eins übernehmen, müsse ihre Haltung nicht ändern. Kurz: Die UFW segelt nun unter der Totenkopfflagge.
Parteipolitik hin, Piraten her, hier sitzen zwei, die in erster Linie ihr eigenes Programm fahren wollen. Zwei Individualisten also? "Sehr", sagt Raiser. "Richtig", sekundiert Steinhilber und erklärt, dass die Piraten innerhalb einer Parteistruktur "das größtmögliche Maß an Freiheit" böten. Auch und gerade durch die Debattenkultur, die jeden soeben festgeklopften Standpunkt umgehend wieder in eine Diskussion verwandelt. Steinhilber selbst will strategisch vorgehen, um durchzusetzen, was er durchsetzen möchte. "Auch wenn das bei den Piraten nicht gerne gehört wird." Ein weiterer Nerz'scher Stoßseufzer gibt ihm an dieser Stelle recht.
Ist ja sowieso alles nicht so toll mit der Debattenkultur, sagt Steinhilber eine halbe Stunde später, da geht es um Liquid Democracy und die Möglichkeit, Politik unabhängig von Köpfen zu machen. Sachorientiert also und mit jenem basisdemokratischen Anspruch, mit dem die Piraten angetreten sind. Einerseits prima, weil man mit Mehrheiten agieren könne und die Meinungsbildung via Informationsfluss geschehe. Andererseits sei die ständige Debatte aber auch zäh und aufwendig, findet Steinhilber, weil immer alles neu in Frage gestellt und zur Abstimmung gebracht werden müsse. "Das ist meine persönliche Meinung dazu."
Weniger Pirat geht kaum, denkt man in solchen Momenten, aber Steinhilber legt gerne nach: Was da auf Bundesebene laufe bei den Piraten, der ganze interne Zoff im Bundesvorstand, das habe natürlich Auswirkungen auf die kommunale Arbeit. Dabei "hat das wirklich nichts zu tun mit den Problemen, die deutschlandweit bei den Piraten vorhanden sind".
Und selbst vor denen kann man sich mit konsequenter Netzabstinenz schützen. Sie surfe gar nicht rum, sagt Ilona Raiser. "Spiegel" und FAZ online, okay, aber dann ist auch schon Schluss. Von Facebook haben ihr die Kinder abgeraten, aus Datenschutzgründen. Und Zeit, die Piratenpanels zu nutzen, habe sie als Sachbearbeiterin in einem Textilbetrieb ohnehin nicht. Also müssen drei Tageszeitungen und der Austausch mit dem Fraktionskollegen eben zur politischen Meinungsbildung ausreichen.
Zum Glück gibt es da ja auch noch die jungen Piraten im Kreisverband, bei denen man sich Rat und Anregung fürs freibeuterische Alltagsleben holen und das dann in Politik umsetzen kann. Dass etwa WLAN im städtischen Freibad für die Jungen schon fast so wichtig ist wie Wasser, musste der adulte Piratennachwuchs erst mal lernen. Mittlerweile, erzählt Steinhilber stolz, käme die junge Generation ja schon auf ihn zu, quasi in freier Wildbahn, mitten in der Stadt. Frei nach dem Motto: "Mensch, sie sind doch bei den Piraten, kümmern sie sich doch um dies und jenes."
Man mag nur hoffen, dass dieser Informationsfluss nicht abbricht. Etwa, wenn Raiser im Internethandel "eine riesige Gefahr für die Verödung und Verslumung der Innenstädte" sieht. Und beide keine wirkliche Antwort auf die Frage haben, wie denn die Piratenstadt Tübingen 2030 aussehen könnte: "Das kostet aber ein großes Maß an Fantasie", findet Steinhilber, will dann den Tourismus befeuern und mehr kulturelle Möglichkeiten durch Einbindung der Universität schaffen. Leben ins öde digitale Off bringen? Iwo, gar nicht: "Einkaufen kann man dann schon noch." Indem, hofft Raiser, der Verkehr umgeleitet und der innerstädtische Raum zum riesigen Marktplatz wird. Analog, versteht sich.
Beim Abschied freut sich Sebastian Nerz, dass er mal nicht nur über den Zoff im Bundesvorstand reden musste. Und Ilona Raiser bittet darum, dass man eines nicht vergessen möge: "Wir sind Amateure."
1 Kommentar verfügbar
peterwmeisel
am 15.03.2013