Bürger runter vom Balkon, unterstützt den Vietcong: Dieser Slogan der Alt-68er ist sowas von out. Mal abgesehen davon, dass Letzteres auch nicht die ultimative Lösung war – runter vom Balkon geht derzeit gar nicht. Heute gilt: wohl denen, die Balkone haben. Denn seit Corona wissen wir: Sie helfen gegen Lagerkoller und bei Aggressionsschüben. Sie sind zu Treffpunkten und Bühnen geworden, zum Tor zur Welt. Sie sind der trotzige Fuß in der Tür zum öffentlichen Leben, die Covid-19 zugeschlagen hat. Sogar Kundgebungen finden heute auf den Freisitzen statt. Balkone für alle, lautet die Forderung der Stunde! Hoch die Internationale Freisitz-Solidarität!
Bürger raus auf den Balkon ist in. Demos finden in luftiger Höhe statt. Am vergangenen Samstag von der Straße verlegt ins Netz. Und in Fenstern, Loggien, Balkonen hingen Transparente und Banner, mit Deckeln und Kochtöpfen wurde gehörig getrommelt für Wohnen als Menschenrecht. Und, möchten wir hinzufügen, unbedingt mit Balkonen. Die sind derzeit für Meinungsäußerungen unverzichtbar, ein Grundrecht. In Spanien etwa schepperten die Kochlöffel gegen das spanische Königshaus. Der ehemalige König Juan Carlos hat laut Medienberichten 100 Millionen US-Dollar aus Saudi-Arabien erhalten. Die soll er, so die empörten Spanier, die bereits seit zwei Wochen in ihre Wohnungen verbannt sind, gefälligst ins überforderte Gesundheitssystem stecken.
Wenn der Gefangenenchor singt
Romeo und Julia haben derzeit harte Konkurrenz, Balkonszenen gibt es in Zeiten der Pandemie weltweit. In Madrids Trabantenstadt wird auf hunderten Balkonen eine Riesenparty gegen die Isolation gefeiert. Filme werden als Openair-Kino an Hauswände geworfen und vom heimischen Balkonen wie in der Oper und alten Filmtheatern exklusiv genossen. Es sind vor allem die in ihren Wohnungen eingepferchten Stadtbewohner weltweit, die als Gefangenenchor heute ein Loblied auf diese architektonische Erfindung singen können, im wahren Wortsinn.
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