Mit dem 4. November 2011 musste vieles anders werden, wenn auch unter den geltenden Rahmenbedingungen. Schon die 2013 vom damaligen Innenminister Reinhold Gall (SPD) eingesetzte "Ermittlungsgruppe Umfeld" hatte 4500 Ordner händisch sichten müssen, um nach Verbindungen ins und Spuren im Land zu suchen. 2016 verweist die inzwischen grün-schwarze Landesregierung in ihrem Bericht zu den Empfehlungen des ersten Ausschusses darauf, dass, "sofern die Finanzierung gesichert ist, für die Landesverwaltung ein elektronisches Aktenverwaltungssystem eingeführt wird". Der gesamte Datenbestand zum Thema Rechtsterrorismus könne dann zusammengeführt werden. Oder besser, das, was entsprechend der abgestuften Löschfristen nach dem Polizei- und dem Landesverfassungsschutzgesetz von fünf, zehn oder 15 Jahren davon übrig ist, sollte unter das bislang geltende Moratorium fallen.
Dass das Eis so dünn ist, auf dem sich alle Verantwortlichen einschließlich der Datenschützer in Bund und Ländern bewegen (müssen), hat nicht zuletzt mit dem Verhalten der Ermittlungsbehörden nach dem 4. November 2011 zu tun. Vier Tage später, um 13 Uhr, stellt sich Beate Zschäpe in Jena der Polizei. Und um 15 Uhr beginnt das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit dem Aktenschreddern. Mit dem für die "Aktion Konfetti" verantwortlichen Referatsleiter befasst sich der Staats- und Verwaltungsrechtler Martin Kutscha 2018 unter der Überschrift "Der Verfassungsschutz – (nur) ein Sicherheitsrisiko?". Denn der Mann mit dem Decknamen "Lothar Lingen" erklärte 2014 beim Bundeskriminalamt, er habe geahnt, "dass die Öffentlichkeit sich sehr für die Quellenlage des Bundesamtes in Thüringen, also das dichte V-Leute-Netz um die Terrorgruppe, interessieren würde". Und weiter: "Vernichtete Akten könnten aber nicht mehr überprüft werden." Von einzelnen unerklärlichen "'Pannen' der Behörden", so Kutscha, "kann also keine Rede sein, vielmehr steckt eine gezielte Vertuschungsabsicht dahinter".
Baden-Württemberg hat Aktenvernichtung immer wieder verschoben
Erst vor einem Jahr stellte die Kölner Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den ehemaligen Referatsleiter ein, gegen die Zahlung einer Geldbuße von 3000 Euro: Der Mann habe sich eines sogenannten "Verwahrungsbruchs" schuldig gemacht, hieß es. Außerdem wurde zur Entlastung behauptet, alle Akten hätten rekonstruiert werden können. Ziemlich genau das Gegenteil davon hatte aber der erste Untersuchungsausschuss des Bundestags festgestellt.
Auf dieses Gremium unter Leitung des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy geht auch das Löschmoratorium zurück, dessen verzögertes Inkrafttreten allerdings erst recht die Einschätzung stützt, es sei gezielte Vertuschungsabsicht im Spiel gewesen. Denn die offizielle Anweisung von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gab es erst im Sommer 2011, als schon mehrere hundert Ordner vernichtet waren, darunter 94 Personenakten zu Neonazis. Die Aufregung darüber hält zu Recht bis heute an, zum Beispiel unter den NSU-Watchern im Netz ("Aufklären und Einmischen"). Zur Wahrheit gehört andererseits, dass das Vernichten von Akten nach festgelegten Fristen grundsätzlich geboten ist, gerade aus rechtsstaatlicher Sicht.
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Ruby Tuesday
am 16.11.2019