Die Reise war für Amri erst einmal zu Ende. Die Bundespolizei überstellte ihn an das Polizeirevier Friedrichshafen des Polizeipräsidiums Konstanz, wie Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) am 31. Januar 2017 der Landtags-SPD schrieb. Die Bundespolizei habe dabei die Ergebnisse der Personenkontrolle Amris mitgeteilt: "Verdacht auf Urkundenfälschung, des Verschaffens falscher amtlicher Ausweise, des unerlaubten Betäubungsmittelbesitzes, des unerlaubten Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel und des unerlaubten Aufenthalts ohne Pass/Passersatz."Amri kam daraufhin in Haft: Nicht wegen der Urkundendelikte, sondern nur aus aufenthaltsrechtlichen Gründen – "zur Sicherung der Abschiebung", wie der Berliner Sonderbeauftragte in seinem Abschlussbericht fast schon sarkastisch anmerkt.
Bis zu Amris Freilassung am 1. August 2016 waren nach Josts Recherchen neben der örtlichen Bundespolizei und der Landespolizei Baden-Württemberg auch die Landeskriminalämter Berlin und Nordrhein-Westfalen, wo sich Amri in den Vormonaten aufgehalten hatte, "fortlaufend eingebunden". Die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft Ravensburg und die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, die sich schon einige Zeit mit Amri beschäftigte, seien "kontinuierlich informiert" gewesen. Außerdem gibt es laut Jost Anhaltspunkte dafür, dass auch das Staatsschutzdezernat der Polizeidirektion Friedrichshafen sowie das Landeskriminalamt Baden-Württemberg "beteiligt waren beziehungsweise Kenntnis hatten".
Handwerkliche Fehler trotz "geballter Kompetenz"
Das Urteil des ehemaligen Bundesanwalts fällt vernichtend aus: "Obwohl angesichts der geballten Kompetenz der beteiligten Stellen keine Zweifel an der Person und an der Bedeutung des Festgenommenen Amri bestehen konnten, weist die Sachbehandlung des Falles nach Aktenlage eine Reihe unterschiedlich schwerer handwerklicher Fehler auf." Es sei beispielsweise "nicht versucht oder auch nur erwogen" worden, "gegen Amri wegen seiner aktuell begangenen Straftaten einen Haftbefehl zu erwirken". Laut Jost wäre das "angesichts der seit längerem laufenden Versuche, ihn aus Deutschland abzuschieben, dringend geboten und auch möglich gewesen".
Jost kritisiert unter anderem die "Behandlung der sichergestellten Gegenstände" als "wenig professionell". So sei das Handy von Amri weder ausgewertet noch dauerhaft sichergestellt worden. Ein bei Amri aufgefundenes Schriftstück mit arabischen Schriftzeichen sei nicht übersetzt worden. In einer Vernehmung am 30. Juli 2016 sei Amri nicht gefragt worden, wann und auf welche Weise er an gefälschte italienische Ausweispapiere gekommen ist. Nicht einmal nach seinem aktuellen Wohnort oder seinem letzten Aufenthaltsort hätten sich die Ermittler erkundigt. Stattdessen wurde er am 1. August 2016 freigelassen, obwohl Fluchtgefahr ein klassischer Haftgrund ist. Die Gefahr trat ein: "Wegen unbekannten Aufenthalts" stellte die Staatsanwaltschaft Ravensburg das Verfahren gegen ihn "ohne weitere Ermittlungen" bereits am 7. September 2016 vorläufig ein, wie Bruno Jost vermerkt.
Zum Vergleich: Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl hatte am 26. April 2017 dem Innenausschuss des Landtags mitgeteilt, "dass im Fall Anis Amri in keinem einzigen Punkt irgendein Fehlverhalten baden-württembergischer Beamtinnen, Beamter oder Behörden erkennbar geworden sei". Und weiter: "Wenn Fehler gemacht worden seien, müsste der Blick auf andere Behörden gerichtet werden."
Wie ein Terrorist von seiner Freilassung überrascht wurde
Bei der Auswertung abgehörter Telefonate stellt der Sonderbeauftragte Jost fest, dass die Freilassung Amris "zur Überraschung aller" am 1. August 2016 nicht nur beim Betroffenen, sondern auch bei seinen Kontaktpersonen Euphorie auslöste: "Die Tatsache, dass er trotz seiner Straftaten, der Verwendung verschiedener Identitäten und der Nutzung gefälschter Ausweise wieder freigelassen wird, stellt, rückblickend gesehen, nicht nur für die Sicherheitsbehörden, sondern auch für Amri ein Schlüsselmoment dar. In den folgenden Gesprächen kommt bei ihm neben extremen Hoch- und Überlegenheitsgefühlen auch eine gesteigerte Religiosität zum Ausdruck."
Die Haftentlassung Amris in Baden-Württemberg, teilte Innenminister Strobl im Februar 2017 mit, "erfolgte auf Anordnung der zuständigen Ausländerbehörde Kleve in Nordrhein-Westfalen". Demnach habe die Abschiebung "nicht innerhalb des möglichen Anordnungszeitraums" vollzogen werden können: Der Islamist, den die Polizei als "Gefährder" eingestuft hatte, verfügte über keine gültigen Ausweisdokumente.
Abweichend davon kommt Jost zu dem Ergebnis, dass nicht Nordrhein-Westfalen, sondern Baden-Württemberg für die Abschiebung Amris zuständig gewesen wäre. Denn zuständig sei das Bundesland, dem ein Flüchtling bei der "Erstverteilung" nach dem System "Erstaufnahme Asyl" (EASY) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zugewiesen werde.
Jost erläutert: "Bisher wurde einhellig davon ausgegangen, dass Amri sich – nach seiner Einreise in Deutschland über Freiburg Anfang Juli 2015 – am 28. Juli 2015 in Berlin als Asylsuchender gemeldet habe und erstmals dort mit dem EASY-Verfahren nach Nordrhein-Westfalen als zuständigem Land verwiesen worden sei." Doch das treffe nach seinen Untersuchungen nicht zu. "Sicher ist, dass die EASY-Zuweisung in Ellwangen vom 22. Juli 2015" – Amri wurde nach Karlsruhe geschickt – "als Erstverteilung bindend war und bei ihrem Bekanntwerden alle späteren Zuweisungen gegenstandslos gemacht hätte. Hieraus folgt, dass letztlich auch für die spätere Abschiebung Amris Baden-Württemberg zuständig war beziehungsweise gewesen wäre." Es sei nicht nachvollziehbar, "dass das beschriebene Geschehen bisher niemandem aufgefallen ist".
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Schwa be
am 20.10.2017RBB und „Morgenpost“ berichten, ein V-Mann des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes mit Bezug zu Amri habe zu Anschlägen mit LKW aufgefordert.
Ein V-Mann soll Anis Amri, den Attentäter vom Breitscheidplatz im vergangenen Dezember, zu…