KONTEXT:Wochenzeitung
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Stern-Dämmerung

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Im juristischen Streit um einen TV-Beitrag über Arbeitsbedingungen bei Daimler droht dem Autobauer auch in der zweiten Instanz eine Niederlage: Das OLG Stuttgart deutete an, die Unterlassungsklage abweisen zu wollen, die dem SWR die weitere Ausstrahlung der Doku "Hungerlohn am Fließband" verbieten soll.

Gewöhnlich vertragen sich die beiden. Daimler schaltet Spots im Werbefernsehen der ARD, im Fuhrpark des Südwestrundfunks (SWR) stehen Autos mit dem Stern. Doch im vergangenen Jahr trafen sich die Aushängeschilder der Stuttgarter Medien- und Industrielandschaft vor dem Kadi wieder. Der Autohersteller hatte den Äffle-und-Pferdles-Sender verklagt, eine TV-Doku über fragwürdige Beschäftigungsverhältnisse beim Nobelkarossenhersteller nicht erneut zu senden. Zunächst vergeblich: Mit Urteil vom 9. 10. 2014 (Az. 11 O 15/14) wies das Landgericht Stuttgart die Klage gegen <link https: www.youtube.com _blank>"Hungerlohn am Fließband – Wie Tarife ausgehebelt werden" ab. Am vergangenen Mittwoch (17. 6.) trafen sich die Kontrahenten in zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht wieder. Und auch hier scheint der Stern des Autobauers eher unterzugehen. Während der dreistündigen Verhandlung deutete der Vorsitzende Richter Matthias Haag an, dass auch der für Pressesachen zuständige 4. OLG-Zivilsenat das Begehren der Daimler AG abzuweisen gedenkt.

Um was geht es? Salopp, um ein Corpus Delicti von Günter-Wallraff-Format. Wie der berühmte Kölner Enthüllungsjournalist schlüpfte vor zwei Jahren SWR-Reporter Jürgen Rose für eine Undercover-Recherche in eine fremde Rolle, gab sich als arbeitssuchender Familienvater von vier Kindern aus. Über Leiharbeitsfirma und Logistikdienstleister landete Rose als Werkvertrags-Mitarbeiter schließlich im Daimler-Werk Untertürkheim, wo er am Band Zylinderköpfe für den Versand nach China zu verpacken hatte.

Heimlich filmte Rose während insgesamt 13 Arbeitstagen, wie er Hand in Hand mit Kollegen der Daimler-Stammbelegschaft arbeitete, vergleichbare Tätigkeiten wie diese machte – und dennoch mit 8,19 Euro die Stunde nicht einmal die Hälfte dessen verdiente, was der Autokonzern eigenem Personal zahlte. Doch das war nur ein Ergebnis der Recherche. Mit rund 900 Euro netto im Monat hatte der Undercover-Arbeiter Anrecht auf Hartz IV und wurde unerwartet zum "Aufstocker". "Da haben bei mir erst recht die Glocken geläutet", sagt Rose rückblickend. Unglaublich, aber dank der Schröder'schen Agenda 2010 legal: Was der Premiumhersteller durch Einsatz von Werkvertragsarbeitern in seinen Werken spart, womit er auch seinen Milliardengewinn erwirtschaftet – das zahlt der Steuerzahler aus den Sozialkassen drauf.

Die Pressefreiheit endet nicht am Werkstor

Die Videos vom Fließband bekam die Fernsehnation am 13. Mai 2013 in der ARD zu sehen, publikumswirksam gleich nach der "Tagesschau". Zumindest in der Konzernzentrale in Untertürkheim kamen die Bilder gar nicht gut an. Daimler reichte Unterlassungsklage ein. Das Filmen mit versteckter Kamera auf Werksgelände und in Produktionshallen sei illegal, weil es den Hausfrieden breche und das Persönlichkeitsrecht des Unternehmens verletzte, so eine Argumentation der Daimler-Juristen, warum die mittlerweile preisgekrönte Doku auf Nimmerwiedersehen im Archiv verschwinden sollte. In der ersten Instanz folgte das Landgericht Stuttgart im vergangenen Herbst der Argumentation nicht. Das öffentliche Interesse an Missständen beim Einsatz von Werkvertragsarbeitern überwiege den Rechtsbruch, den der Undercover-Reporter durch heimliches Filmen im Werksgelände begangen habe, urteilten die Richter. "Die Entscheidung besagt, dass die Pressefreiheit nicht an Werkstoren endet", frohlockte SWR-Sprecher Wolfgang Utz damals. 

Ähnlich argumentierten jetzt auch die Richter am Oberlandesgericht. Unstrittig sei, dass das Bildmaterial aus den Werkshallen, auf denen "bis auf dem Stern auf der Arbeitskleidung" relativ wenig, meist Belangloses zu erkennen sei, illegal erlangt worden sei, sagte Richter Haag. Anders als die erste Instanz sahen die OLG-Richter auch keinen Hausfriedensbruch durch den Reporter begangen, da dieser das Werk als Arbeiter betreten habe. Bilder, und auch die Doku insgesamt, belegten jedoch nicht, dass der Autohersteller unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung duldet. Diesen Vorwurf äußerte im Beitrag von Jürgen Rose und Claus Hanischdörfer der Koblenzer Arbeitsmarktforscher Stefan Sell.

Dann nahm sich der Vorsitzende Richter Daimler zur Brust. Das Unternehmen entgehe der Entlohnung von Stammarbeitern und legalen Leiharbeitern, indem es "Arbeitsschritte aus dem Fertigungsprozess heraustrennt und als 'Werk' definiert und dadurch Kosten spart", betonte Haag. Das sei zwar durchaus legal, so der Richter. Zugleich verdiene aber ein bei Daimler eingesetzter Werkvertragsarbeiter mit einem Nettolohn von monatlich 991 Euro viel weniger als die Stammbelegschaft. Und er sei – "erst recht mit vier Kindern" – auf Sozialleistungen angewiesen, um ein annähernd "angemessenes Leben zu fristen". Dass ein Unternehmen seine Produktionskosten auf Kosten der Allgemeinheit reduziere, "ist aus unserer Sicht ein erheblicher Missstand", betonte der Kammervorsitzende. Damit seien auch die Vorgaben eines höchstrichterlichen Urteils zur Veröffentlichung illegal beschaffter Informationen erfüllt.

Im Januar 1984 hatte das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Wallraff-Urteil enge Grenzen dafür gesetzt. So hat grundsätzlich immer dann, wenn sich der Publizierende die Informationen widerrechtlich durch Täuschung in der Absicht verschafft hat, um sie gegen den Getäuschten zu verwerten, die Veröffentlichung zu unterbleiben. Eine Ausnahme davon ließen die Verfassungsrichter nur zu, wenn die Bedeutung der Informationen für die Unterrichtung der Öffentlichkeit und für die öffentliche Meinungsbildung eindeutig die Nachteile überwiegen, welche der Rechtsbruch für den Betroffenen und für die Rechtsordnung nach sich zieht.

Doch damit sei der Abwägungsprozess nicht beendet. Als weitere Frage habe die Kammer beantworten müssen, ob dieser "erhebliche Missstand" in der TV-Dokumentation nur mit den Aufnahmen versteckter Kameras und nicht auch durch nachgestellte Szenen, anonymisierten Interviews oder anderen dramaturgischen Mitteln hätte illustriert werden können, erläuterte der Vorsitzende. "Mit Bauchweh sind wir der Meinung, dass der Beitrag auch durch illegal erlangtes Bildmaterial bebildert werden darf, um Authentizität herzustellen", bejahte der Richter eine weitere Ausnahme in der Ausnahme. Allerdings: Was Rose und der verantwortliche Sender gemacht haben, halte die Kammer für "gerade noch zulässig", betonte Haag. Mit einer möglichen Zurückweisung der Unterlassungsklage werde "auch nicht Tür und Tor für eine Berichterstattung mit illegal erlangtem Material geöffnet", unterstrich er. "Mir wäre als SWR nicht wohl gewesen", betonte der Richter, dass sich Sender wie Reporter auf dünnem Eis bewegten.

Auch Merkel sieht "schamloses" Lohndumping

Der Rechtsbeistand von Daimler kam erwartungsgemäß "genau zum gegensätzlichen Ergebnis": "Da geht einer rein, täuscht etwas vor und dreht viele Wochen heimlich mit vier Kameras", betonte der Berliner Medienanwalt Christian Schertz die strafrechtliche Seite. Auch der SWR selbst fände es nicht gut, wenn jemand heimlich "die Reinigungskräfte der Fremdfirma filmt, die die Casinos des Senders sauber machen". Darüber hinaus wäre das Verpacken der Zylinderköpfe kein Produktionsschritt, sondern eine Logistikarbeit, für die der Undercover-Reporter gesetzeskonform nach dem Tarifvertrag der Logistikbranche bezahlt worden sei, merkte ein Daimler-Vertreter ergänzend an. Schertz kündigte erneut an, bei Abweisung der Unterlassungsklage notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen.

SWR-Anwalt Emanuel Burkhardt wiederum betonte, dass die heimlich aufgenommenen Videos den Beschäftigungsmissstand bei Daimler belegen. "Ohne das Bildmaterial ist eine Dokumentation nicht möglich", so Burkhardt. Dies sieht auch Undercover-Reporter Rose so. "Das glaubt einem doch kein Mensch, wenn man nicht zeigt, was ich selbst erlebt habe", bekräftigte er in einer Verhandlungspause.

Unabhängig vom juristischen Zoff: Die 45-minütige Doku schlug vor zwei Jahren hohe Wellen. Wohl auch deshalb, weil damals gerade die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs begann. Politiker aller Couleur überboten sich, die branchenübergreifende Ausbeutung von Arbeitern zu verurteilen. Auf einer Wahlveranstaltung prangerte selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Lohndumping durch Werkverträge, konkret in der Schlachtindustrie, als "schamlos" an.

Initiativen, den Missstand abzustellen, ergriffen allerdings andere. Und das bislang weitgehend vergeblich. In einer Bundestagsdebatte Ende Juni 2013 zur Arbeitnehmerüberlassung lehnte die damalige schwarz-gelbe Mehrheit acht Anträge und Gesetzentwürfe der oppositionellen SPD, Grünen und Linke zu Leiharbeit, Missbrauch von Werkverträgen und Lohndumping ab. Zwei Tage vor der Bundestagswahl im September 2013 beschloss der rot-grün dominierte Bundesrat einen Gesetzentwurf zur "Bekämpfung des Missbrauchs von Werksverträgen und zur Verhinderung der Umgehung von arbeitsrechtlichen Verpflichtungen". Er hängt bis heute in der Warteschleife. "Es ist noch nicht absehbar, wann die erste Lesung erfolgt", so die aktuelle Auskunft der Bundestagsverwaltung.

Dabei steht die Eindämmung des Beschäftigungsmissbrauchs im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung. Nach dem Gezerre um den Mindestlohn kündigte Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) im vergangenen Herbst auch an, einen entsprechenden Gesetzentwurf noch in diesem Jahr vorzulegen. Postwendend meldete sich Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth dazu zu Wort. "Ich warne davor, dass ein weiterer Eingriff, eine weitere Reglementierung und auch eine weitere Reduzierung der Flexibilität am Ende ganze Wertschöpfungsketten gefährdet", malte der Manager im Oktober das Horrorszenario von Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland an die Wand. "Beim Thema Werkverträge geht es auch darum, dass dem Betriebsrat keine zusätzliche Mitbestimmung eingeräumt wird", betonte er. Spielraum sehe er lediglich bei mehr Informationsrechten.

Schon zuvor hatte der Konzern Schlagzeilen zum gleichen Thema produziert. Nach der Sendung hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart Vorermittlungen wegen möglicher Verwicklung in Scheinwerkverträge bei Dienstleistungsfirmen eingeleitet, freilich ohne anschließend ein förmliches Verfahren zu eröffnen. Im August 2013 gab das Landesarbeitsgericht Stuttgart einer Klage zweier IT-Spezialisten gegen das Unternehmen statt. Sie waren offiziell bei einem IT-Systemhaus beschäftigt, wurden aber aus ihrer Sicht wie Arbeitnehmer des Autobauers behandelt, nur dass sie ein Drittel weniger verdienten als die bei Daimler direkt angestellten Kollegen. Das Gericht urteilte, dass es sich um Scheinwerkverträge handele.

Dass der Autobauer gegen den SWR und dessen TV-Beitrag nach einer krachenden Niederlage vor dem Landgericht in die zweite Instanz zog, hatte zusätzliche Spekulationen ausgelöst. Mancher Medienschaffende fragte sich, ob Daimler "in höherem Interesse", sprich mit wohlwollender Anteilnahme anderer Konzerne und Unternehmen handelt, um auf dem Klageweg neugierigen, neudeutsch: investigativen Journalisten und Medien engere Grenzen für die Recherchearbeit aufzuzwingen.

Ein Vergleich ist bisher nicht in Sicht

Wie die Erstinstanz schlug auch der OLG-Senat den streitenden Parteien vor, sich ohne Urteilsspruch zu vergleichen. Angesichts der inzwischen vergangenen Zeit, in der die TV-Doku an Aktualität verloren habe, könne die Daimler AG ihre Klage zurücknehmen, wenn der SWR von sich aus auf weitere Ausstrahlungen verzichte, schlug Richter Haag vor. Doch hat sich tatsächlich so viel an den "prekären Beschäftigungsverhältnissen" geändert? Noch immer brauchen rund 600 000 Menschen, die einen voll sozialversicherungspflichtigen Job haben, die Hilfe vom Steuerzahler, weil sie nicht genug verdienen, wie eine Antwort der Bundesregierung auf eine aktuelle Anfrage der Grünen zeigt. Und dies, obwohl inzwischen für alle abhängig Beschäftigten ein Mindestlohn von 8,50 Euro gilt. Und während der Verhandlung gab ein Daimler-Vertreter ungefragt zu Protokoll, dass weiterhin Hunderte Werkvertrags-Arbeitnehmer in den Produktionshallen des Autoherstellers beschäftigt sind.

Bis Redaktionsschluss konnten sich die Parteien nicht auf einen Vergleich einigen. Voraussichtlich am 8. Juli 2015 wird deshalb das OLG Stuttgart ein Urteil in Sachen Daimler gegen SWR verkünden.

PS: Im vergangenen Geschäftsjahr 2014 erzielte die Daimler AG einen operativen Gewinn von 7,4 Milliarden Euro. Der Vorstandsvorsitzende Dieter Zetsche verdiente knapp 8,4 Millionen Euro.


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7 Kommentare verfügbar

  • Dankbarer SWR Zuschauer
    am 14.07.2015
    Antworten
    Vielen Dank Jürgen Rose für ihre Recherche, ihre Arbeit und ihren Mut.
    In dieser Firma hat ihr Projekt ein Erdbeben ausgelöst und das Thema in die breite Öffentlichkeit gebracht.
    In den letzten Monaten hat man sich daraufhin beim Stern noch intensiver damit befasst Werksverträge, Leiharbeit und…
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