"Grundsätzlich entwickeln sich unsere Projekte aus Beobachtungen vor Ort", schreiben die Winkler und Köperl auf ihrer Homepage, und das gilt auch für das vorgestellte Video "Medicare", das sie in Lijang in China aufgenommen haben, 2007 schon, lange vor Corona. Vier Projekte haben sie seit 1997 schon in China realisiert, nach Lijang waren sie damals aber eher durch Zufall gekommen. In Bangkog hatten sie einen jungen Amerikaner kennengelernt, dessen Vater in einem Dorf in der Nähe von Lijang ein Haus angemietet hatte, in das er immer wieder Künstler einlud. "Uns fiel auf, dass es in dem Dorf fast keinen Müll gab, nur Verpackungen von Medikamenten lagen herum. Und wir wollten herausfinden, was auf den Packungen draufsteht", erzählt Köperl. Sie hätten auch schon ein bisschen Chinesisch gekonnt, und komponierten so aus den Namen der Medikamente und ihren Anwendungszwecken ein einfaches Lied, das sie zum Klingelton ihres Handys in verschiedenen Apotheken in Lijang darboten. "Wir sind einfach rein, ohne zu fragen", erinnert sich Köperl, und Winkler ergänzt: "In chinesischen Apotheken konnte man damals viel machen, teilweise auch rauchen." Stress bekamen sie deswegen nicht, sorgten eher für Amüsement, wovon auch die kichernde Angestellte im Video zeugt.
Ein Vorgehen, dass sich auch bei anderen "Interventionen" rund um den Globus praktisch immer bewährte: "Wir haben nie um eine Genehmigung angefragt, sondern immer einfach gemacht. Die Hemmschwelle, einzugreifen, ist meist hoch", berichtet Winkler. Und Köperl ergänzt: "Wenn man dagegen etwas beantragt, klappt es meistens nicht, weil immer irgendjemand Verantwortung übernehmen muss." So blieben ihre Performances in Mexiko-City, Bangkog, Kairo, Chengdu oder Montreal meist ungestört – die mitunter heftigste Reaktion erfuhren sie ausgerechnet 2006 in Stuttgart, bei der Aktion "Aber den Kunden gefällt's doch!" in einem Supermarkt. Mit Videokamera und Cassettenrecorder betreten die beiden den Discounter und rappen, bis irgendwann der Marktleiter die Aktion abbricht – "glücklicherweise erst da, wo wir am Ende waren, es passt also perfekt", sagt Köperl.
In den Interventionen der beiden geht es nicht immer, aber oft um kontroverse Themen, ob Gentrifizierung, Umweltverschmutzung, Armut, Konsum oder Mobilität. Sehen sich die beiden als politische Künstler? Zumindest nicht in ganz engem Sinne, sagen sie, wobei, ein gewisser emanzipatorischer Anspruch ist trotzdem oft dabei. Etwa bei einem ihrer neuesten Projekte, "Korrekturfahnen": Großformatig auf einer Wandtafel präsentieren sie die "Charta der Grundrechte der Europäischen Union". Mit BesucherInnen diskutieren sie diese dann nicht nur, sondern verbessern und ergänzen sie auch mit Rotstift um neue Formulierungen.
Präsentiert haben Winkler und Köperl die "Korrekturfahnen" schon 2018 beim Festival "The Future of Europe" in Stuttgart und 2019 bei der Generaldirektion Justiz der EU in Brüssel, in diesem Frühjahr sollten sie damit zu Europaschulen in Sachsen-Anhalt gehen. Daraus wurde wegen Corona nichts, "das wäre unser größtes Projekt in diesem Jahr gewesen, auch finanziell bedeutsam", sagt Köperl. Auch sonst sind wichtige Einnahmen wegen der Pandemie weggebrochen: Winkler arbeitet beim Figurentheater FITZ in Stuttgart, das ist momentan ebenso zu wie die Kunstschule in Fellbach, an der Köperl seit Herbst immer wieder unterrichtete. Ein Workshop im auch geschlossenen Kunstmuseum, wo ein Teil der Schriftarbeiten des Duos seit Februar ausgestellt ist, fiel ebenso flach. Für drei Monate ist immerhin die Künstlersoforthilfe des Landes sicher, und das künstlerische Arbeiten ist auch nicht ganz eingeschränkt. "Wir haben beide bei der Wagenhalle einen Ateliercontainer auf der Wiese", sagt Köperl, da kommt man nicht so schnell mit dem Mindestabstand in Konflikt – der bei vielen ihrer Interventionen wohl ein Problem wäre.
Mehr von und über Sylvia Winkler und Stephan Köperl hier: http://www.winkler-koeperl.net/heimseite.html
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