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Abseits des roten Teppichs

Abseits des roten Teppichs
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Bei der Berlinale, dem großen Fest des deutschen Films, wird auch der Tübinger Marcus Vetter mit dabei sein. Er ist zur Zeit der wohl erfolgreichste Filmemacher Baden-Württembergs. Doch seine Zunft, die der Dokumentaristen, hat es hierzulande schwer.

Wie fast alle Dokumentarfilmer wird er allerdings abseits des roten Teppichs wirken: Als Mitglied der Amnesty-International-Jury, die im Rahmen der Berlinale den Filmpreis der globalen Menschenrechtsorganisation zu vergeben hat. Abseits des roten Teppichs – so könnte auch der Titel eines Films über Dokumentarfilmer lauten. Denn selbst die wenigen erfolgreichen sind nur einem überschaubaren Fachpublikum bekannt. Auf der Berlinale stehen sie nicht im Blitzlichtgewitter, und ihre Filme laufen, wenn überhaupt, nur in den Nebenreihen der großen Filmschau.

So hatte auch Marcus Vetters neuester Film bereits Ende November vergangenen Jahres seine Weltpremiere: auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival IDFA in Amsterdam, dem bedeutendsten Dokumentarfilmwettbewerb der Welt.

"The Forecaster" erzählt die Geschichte des amerikanischen Finanzmagiers Martin Armstrong, der ein treffsicheres mathematisches Prognosemodell für die Börsen der Welt, ja für die ganze Weltwirtschaft entwickelt haben will. Der deutsche Titel "Das Orakel" lässt ahnen, dass Marcus Vetter und seine Ko-Autorin Karin Steinberger der Sache nicht so ganz und gar trauen. Nach der Uraufführung in Amsterdam raunten Filmkritiker zwar, dass "The Forecaster" noch hohe Wellen schlagen werde, doch in der Zwischenzeit ist es ganz ruhig geblieben. Die schwierige Materie aus Börsensprech und Finanzmathematik ist nicht jedermanns Sache und und schon gar nicht die der Filmkritiker.

Die Welt der Spekulanten, der Börsengurus und Crashpropheten, des schnellen und meist auch schnöden Geldes – sie gehört nahezu von Beginn an zu den Leitthemen der Vetter'schen Filmarbeit. Bis vor wenigen Jahren war er damit in der Dokumentarfilmszene ein Solitär. Denn kaum jemand traut sich an die schwierige, rechercheintensive Materie heran, den meisten fehlt auch die Fachkenntnis; sie halten sich dehalb gern an Menschliches, Allzumenschliches.

Senderknecht und Fernsehfuzzi

Nicht so der 1967 in Stuttgart geborene Marcus Attila Vetter. Er hat in Buenos Aires, Madrid und Worms Wirtschaftswissenschaften studiert, danach ein medienpraktisches Aufbaustudium an der Universität Tübingen absolviert. Damit ist er unter den jüngeren Dokumentaristen eher ein Außenseiter. Die meisten haben eine der zahlreichen deutschen Filmhochschulen besucht.

Fast zehn Jahre lang hat Vetter für den SDR, später für den SWR als freier Mitarbeiter gearbeitet. Für die "richtigen" Dokumentarfilmer ist er deshalb ein "Senderknecht", ein "Fernsehfuzzi" und kein freier Künstler – wie sie sich selbst sehen. So falsch ist diese Einschätzung – abgesehen von der neidbeladenen Wortwahl – nicht, besonders in seiner frühen Phase zeigt er sich als Grenzgänger zwischen Journalismus und Dokumentarfilm.

Zu all diesen professionellen Spezialitäten kommt noch eine existenzielle dazu: Vetter wurde – der zweite Vorname Attila lässt es ahnen – als Sohn eines türkischen Gastarbeiters und einer Deutschen geboren. Das ist selbst in den widerspenstigen späten 1960er-Jahren keine einfache Konstellation. Der Vater hat die Mutter bald verlassen um zu seiner Familie in die Türkei zurückzukehren. Mit 38 Jahren hat der Regisseur seine Herkunft in "Mein Vater, der Türke" filmisch verarbeitet. Dafür erhält er 2006 den Prix Europa für Dokumentarfilme. Die schwierige, problembeladene Annäherung an den Vater und seine anatolischen Halbgeschwister sei für ihn selbst der wichtigste Film, meint Marcus Vetter. Als Filmemacher habe er die Geschichte seiner Eltern gesucht, aber seine eigene gefunden.

Doch selbst bei diesem sehr persönlichen Film arbeitet eine Ko-Autorin an seiner Seite, wie bei vielen anderen Vetter-Filmen auch. Dies ist in der Branche ebenfalls ziemlich ungewöhnlich. Dabei ist Marcus Vetter, wie praktisch alle Regisseure, bei der Arbeit wohl eher ein Diktator. Ohne ganz und gar in den Filmen aufzugehen, ohne den Flow zu spüren, diesen fast rauschartigen Zustand lassen sich Werke für Leinwand und Bildschirm nur selten realisieren. Dazu gehört auch, ganze Nächte im Schneideraum zu verbringen, bis an die Grenze der physischen Erschöpfung zu gehen.

Finanzen und Palästina

Dies war für ihn wohl bereits bei seiner ersten größeren Arbeit für das Fernsehen so: "Ein Schweinegeld", 1999 von der ARD gesendet, zeigt die Welt der Daytrader. Menschen also, die ihre Tage und meist auch ihre Nächte zu Hause vor dem PC-Bildschirm verbringen, um im Minutentakt an den Börsen der Welt zu handeln. Für alle Normalos sind das Wahnsinnige, Marcus Vetter zeigt sich von ihrer Sphäre, diesem Reich grenzgängerischer Gier fasziniert. Bereits für dieses Erstlingswerk gibt es zwei renommierte Fernsehpreise.

Zwei Jahre später bringt Vetter den Film "... wo das Geld wächst. Die EM-TV-Story". Er dokumentiert den sagenhaften Aufstieg und den jähen Absturz der Firma EM-TV am Beispiel der Menschen im bayerischen Heimatdorf der Firmengründer. Spätestens seit dieser Produktion gilt Marcus Vetter als Meister einer neuen Gattung Dokumentation, die den Finanzkapitalismus, die New Economy zum Thema macht. Für "Wo das Geld wächst" bekommt er den Adolf-Grimme-Preis. Dreimal werden seine Arbeiten mit diesem heiß begehrten Fernsehpreis ausgezeichnet.

Danach dreht Marcus Vetter vor allem Dokumentarfilme für das Kino. In "Das Herz von Jenin" erzählt er die Geschichte eines Palästinensers, der Organe seines von den Israelis getöteten Sohnes Kindern in Israel spendet. Aus dem Stoff, der auf den ersten Blick nach einer rührseligen Gutmensch-Schnulze riecht, machen Marcus Vetter und sein (israelischer) Ko-Autor Léon Geller eine aufrüttelnde Dokumentation. "Das Herz von Jenin" zeigt, dass, trotz Organspende, manche Gegensätze in diesem Nahostkonflikt unüberbrückbar bleiben, dass es selbst diese "Spende" nicht schafft, orthodoxe Israelis und radikale Palästinenser zu versöhnen. Hochgelobt von der Kritik, ausgezeichnet mit dem Deutschen Filmpreis 2010 war dieser Film auf der qualitativen Seite ein voller Erfolg. Allerdings lockte er, wie die allermeisten Dokumentarfilme, keine Massen in die Kinos.

Das Pulverfass Palästina lässt den Filmemacher nicht los. Immer wieder fährt Marcus Vetter nach Jenin, sammelt Spenden in der ganzen Welt, um das Kino vor Ort, das Cinema Jenin, das während der ersten Intifada zerstört worden war, wiederaufzubauen. 2010 ist es so weit, das Kino kann wieder eröffnet werden. Bis heute ist es auch ein kulturelles Zentrum der Stadt im Westjordanland, ein Treffpunkt von Musikern, Künstlern und Folkloregruppen.

Produziert wurde "Das Herz von Jenin" von der Firma Eikon, die – wie die meisten deutschen Filmfirmen – in Berlin beheimatet ist. Dort wohnen auch etwa zwei Drittel aller DokumentarfilmerInnen. Marcus Vetter hat dem Sog der Hauptstadt bisher widerstanden. "Man muss sich den Süden leisten können als Filmemacher" meint der Regisseur aus Tübingen. In Berlin ist alles billiger, nicht nur das Leben, auch Equipment und Menschpower, Schnittplätze und Postproduktion.

Dazu kommt, dass Deutschlands Metropole, wie auch Vetter meint, "ein cooler Ort" ist. Die Konzentration in der Hauptstadt hat die wirtschaftliche Lage des Dokumentarfilms nicht verbessert – eher im Gegenteil. "Es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, wie schwer es die Dokumentaristen hierzulande inzwischen haben." Diesem Bekenntnis des erfolgreichen Filmemachers wird kaum jemand, der die Branche kennt, widersprechen.

Kaum attraktive Sendeplätze für Dokus

Die mächtigen ARD-Sender, aber auch das ZDF, beteiligen sich oft nur noch mit mickrigen Beträgen am "großen Dokumentarfilm". Der Kulturkanal Arte, früher eine sichere Bank für Doku-Produzenten, hat nach zahlreichen Programmreformen die Zahl der attraktiven Sendeplätze heruntergefahren. Die Ausweitung der digitalen Programme der öffentlich-rechtlichen Anstalten führt kaum zu mehr Einnahmen für die Produktionsfirmen, gezahlt werden da wirklich nur noch Peanuts. Alle Hoffnungen, "im Netz", wie es so schön heißt, Geld zu verdienen, haben sich bisher nicht erfüllt.

Bleiben die knapp 300 Millionen Euro der Filmförderer in Deutschland und die Fördertöpfe der Europäischen Union. Deren Mittel müssen aber inzwischen auf sehr viel mehr hungrige Filmemacher verteilt werden als noch vor Jahren. Viele der einigermaßen arrivierten Dokumentarfilmer haben nämlich als Einnahmequelle und zur Befriedigung der eigenen Eitelkeit die Lehre entdeckt: Sie bilden, entweder als "richtige" Professoren oder als Lehrbeauftragte, immer mehr DokumentaristInnen aus und sägen so eifrig an dem Ast, auf dem sie selber sitzen. Weltweit gibt es in keinem Land so viele eigenständige Filmhochschulen wie in Deutschland. Dazu kommen die zahlreichen privaten Anbieter. Neuerdings haben auch die Universitäten entdeckt, dass "was mit Medien" ein äußerst attraktives Studienangebot sein kann.

Ein Pionier auf diesem Feld war die Universität Tübingen mit ihrem Theorie und Praxis verbindenden Medienstudiengang. Da hat auch Marcus Vetter studiert, da lehrt er jetzt auch. Ein weiterer Grund, dem Südwesten der Republik treu zu bleiben.

Wichtiger sind für ihn freilich das ungetrübte Wohlwollen der heimischen Filmförderung und die – zumindest für ihn – "tollen Konstellationen" beim SWR. Das hat ihm auch bei seinem Film "The Forecaster" genützt. Der kommt Anfang Mai ins Kino.

Marcus Vetter, der Filmemacher, der mit Frau und zwei Kindern in Tübingen lebt, arbeitet unterdessen schon an seinem nächsten Film. Über Jens Söring, einen Mann der seit 20 Jahren in den USA im Gefängnis sitzt, wahrscheinlich unschuldig.

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1 Kommentar verfügbar

  • FernDerHeimat
    am 05.02.2015
    Antworten
    Wen wundert's, dass sich der Mann bei uns im "Ländle" schwer tut.

    Von selbständigen, kritischen und vor allem politisch unabhängigen Filmemachern ist die Abbildung und Kommentierung unbequemer Realitäten generell unerwünscht.

    Egal ob unter Schwarz und Gelb oder unter Grün und Rot.
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