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Johannes Rauschenberger

Der fürsorgliche Anarcho

Johannes Rauschenberger: Der fürsorgliche Anarcho
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Ohne Finanzvorstand Johannes Rauschenberger gäbe es Kontext nicht oder nicht mehr. Jetzt ist er 75 geworden und eigentlich unersetzlich, weil er viel mehr ist als ein Held der Zahlen.

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Wer diesen Menschen verstehen will, muss wissen, woher er kommt. Unterwaldach im Nordschwarzwald. 1950 bis 1970. Ein paar Bauernhöfe, eine Kapelle, ein Bach, ein Sägewerk, keine Kneipe, im Winter meterhoch Schnee und bis zu 28 Grad minus. Das aufzusagen reicht normalerweise, um zu beschreiben, wie Kargheit und Einsamkeit aussehen. Johannes Rauschenberger genügt es nicht.

Er malt eine Skizze. Eingezeichnet sind alle Höfe, Namen und Zahl ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, das Sägewerk und der Bach, an dem sein Elternhaus liegt. Es ist das schattigste von allen. Insgesamt kommt er auf 36 Menschen, evangelisch, elf Häuser und sieben Misthaufen. Auch die Familie Rauschenberger wohnt über dem Kuhstall, lebt aber nicht mehr von der Landwirtschaft. Ihr gehört das Sägewerk, in dem der Sohn dem Vater von klein an zur Hand gehen muss. Wenn er zickt, gibt's Prügel, ist er folgsam, eine Bluna. Letzteres aber nur sonntags, wenn er mit dem Vater nach Bäumen Ausschau hält, die zersägt werden können.

Einen Kindergarten kennt der Junge nicht. Mal- und Bleistifte sind ihm fremd, Lieder ebenso. Sollten Höflichkeit, Geschmeidigkeit, Diplomatie erlernbare Kulturtechniken sein, so fehlt ihm das Lehrpersonal. Geschickt stellt er sich beim Forellenfangen an. Für den Fotografen wird er sauber gescheitelt, in eine Strickweste, kurze Stoffhose und karierte Strümpfe gesteckt. Geblieben ist die Leidenschaft für Sandalen.

Das nächstgrößere Gemeinwesen ist das drei Kilometer entfernte Pfalzgrafenweiler, wohin der Bub, sommers wie winters, mit dem Rad zur Schule fährt. Dort beginnt er zu lesen, Bücher über Fußballhelden wie Fritz Walter und Helmut Rahn zunächst. Die Welt wird weiter, die väterlichen Hiebe verstärken den Widerspruchsgeist und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Heute erinnern sie ihn daran, wie wichtig es ist, ein Gespür für das Gerechte zu behalten.

Das durchzieht sein Leben wie ein roter Faden. Es gibt in Stuttgart wahrscheinlich kaum jemanden, der Berufliches und Privates so eng mit einer Mission verknüpft hat, die einer aufgeklärten Zivilgesellschaft dient. Es ist der Solidargedanke. Miteinander schaffen, nicht gegeneinander, im Kopf behalten, wo unten ist und wo oben. Nicht von ungefähr lässt er immer am 1. Mai die Internationale ("Völker, hört die Signale") via Lautsprecher übers Heusteigviertel schallen.

Er unterschreibt immer noch mit "oben bleiben"

Wo hat der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer Rauschenberger nicht überall geholfen! Als Gründungsmitglied im Schretzmeierschen Theaterhaus, bei Peter Grohmanns Anstiftern, bei Gangolf Stockers "Leben in Stuttgart", beim "Netzwerk Selbsthilfe", bei den Initiativen gegen Stuttgart 21, deren grüngelbe Fahne nach wie vor auf seinem Balkon weht. Immer noch unterschreibt er seine Mails mit "oben bleiben". Wenn er heute über das Bahn- und Immobilienprojekt spricht, kriegt er immer noch einen roten Kopf, was für sein Herz nicht gut ist. In seiner Brust hat er mehr Stents als Finger an einer Hand.

Solcherlei Emotionen begleiten ihn auch im Auto, das kleiner geworden ist. Früher, als junger Steuerberater, hat er noch einen Mercedes 190 SL gefahren. Wer heute bei ihm einsteigt, klemmt sich in einen Smart, schwarz-rot lackiert und for two, und muss mit einem Gewitter wilder Zurechtweisungen anderer Verkehrsteilnehmer:innen rechnen. Wieder einmal nur Idioten unterwegs. Das ist wahrscheinlich gar nicht persönlich gemeint, sondern Ausdruck einer Spannung in diesem Feuerkopf, der sich ständig sorgt, nicht genug Zeit zu haben. Und deshalb auch nachts noch in seinem Büro hockt, das er euphemistisch "Café Libanon" nennt. Angelehnt an die Straße mit dem dazu passenden Namen im Stuttgarter Osten. "Johannes ist Schwabe und als solcher immer bei der Arbeit anzutreffen", schrieb jüngst die taz in ihrer Würdigung des Jubilars und erahnte wahrscheinlich nicht, wie nah das Klischee in diesem Fall der Wahrheit kommt.

Es ist ja nicht nur die linksalternative Kundschaft, die betreut werden will. Da ist auch noch die Lokalpolitik, die den Diplomkaufmann juckt. Wie bei vielen war Stuttgart 21 auch bei ihm der Auslöser, sollte die Liste "Parteilos glücklich", 1999 angeführt von Gangolf Stocker, den Gemeinderat aufmischen, was kläglich scheiterte. Die Stuttgarter seien dafür noch nicht reif gewesen, glaubt Rauschenberger, allein des Namens wegen. Mit der SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial) fünf Jahre später war es dann so weit: Hannes Rockenbauch zog ein, unterstützt vom Zählkandidaten Rauschenberger, der stets zur Stelle war, wenn die Liste voll werden musste. Was ihn aber nicht daran hinderte, genau zu gucken, wie weit er von ganz hinten nach vorne gerückt ist (zuletzt, bei der Wahl 2024, panaschierten und kumulierten ihn die Stuttgarterinnen und Stuttgarter von Platz 59 auf 38).

Und dann ist da noch die taz. Aufsichtsrat war er von 1995 bis 2019, der mit der längsten Amtszeit, mitprägend, wie die Zeitung betont und ihn in ihrem "Boulevard der Besten" führt. 30 Jahre ist es tatsächlich her, dass er in der Geno-Versammlung hockte, den Pleitegeier mit Bangen erwartend. Niemand wollte mehr Aufseher werden, zu rot die Zahlen, zu groß das Risiko, für Verluste haften zu müssen – bis der unverdrossene Optimist sagte: "Ich mach's." Und sich in den hinteren Reihen eine weitere Hand reckte. Sie gehörte Hans-Christian Ströbele, einem der Väter der taz, Anwalt und Ur-Grüner, der sich unermüdlich für eine gerechte Gesellschaft eingesetzt hat, für eine Gesellschaft, die niemanden alleine oder fallen lässt. Mit ihm teilte Rauschenberger den "vermessenen Wunsch" nach einer "täglich linken und, ja, auch radikalen Zeitung".

Wer weiß, was aus Kontext geworden wäre? Ohne die taz und ohne Rauschenberger, für den Kontext das "Lieblingsprojekt" war und ist. Kann man ja auch verstehen, wenn wir uns an den März 2012 erinnern. Damals sind wir zur Bundesbank in die Theodor-Heuss-Straße gefahren, mit Taschen voller Geld, Ein- und Zwei-Euro-Münzen im Wert von 10.000 Euro, 86 Kilogramm schwer, gespendet von dem Unternehmer Thomas Barth, der großen Spaß daran hatte, uns einmal monetenmäßig schwitzen zu sehen. Er habe sich gefühlt "wie Dagobert Duck", erzählte der sonst wenig verwöhnte Finanzvorstand später.

Der Nordschwarzwälder aus Unterwaldach war die Brücke zwischen Stuttgart und Berlin, über die wir gingen. Mit einem Vertrauensvorschuss im Gepäck, der uns als kleine Schwester der taz durchgehen ließ, weil es da Gemeinsamkeiten gab, die Rauschenberger verkörperte. Vermutlich hat er in der Zeitung erzählt, hier kämen Sonderlinge aus Schwaben, im Strickpulli, barfuß in Sandalen, Weltverbesserer wie er. Dabei hat er womöglich die Hand aufs Herz gelegt und gesagt: "Meine Meinung." Am Dienstag, dem 1. Juli, ist er 75 geworden.

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