KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Italien in BaWü

Wie ein verlassener Planet

Italien in BaWü: Wie ein verlassener Planet
|

Datum:

In der italienischen Region Kalabrien hat eine Gruppe AktivistInnen ein geschlossenes Krankenhaus besetzt, weil es viel zu wenig offene gibt. Die Solidarität reicht bis nach Waiblingen.

Zurück Weiter

An der Küste des Ortes Cariati, 8.000 Einwohner, ganz unten am italienischen Stiefel, führt eine Straße entlang, die sie die "Straße des Todes" nennen. Es ist die einzige, die den Ort mit anderen Orten verbindet, zweispurig, keine Überholmöglichkeiten, eine schlechte Straße, eine, auf der Menschen sterben, weil sie nicht schnell genug in ein Krankenhaus gebracht werden können. Öffentliche Kliniken sind rar in Kalabrien, weil im Zuge von EU-Sparmaßnahmen seit Jahren vor allem im Gesundheitssektor gekürzt wird, weil private und auf teure Leistungen spezialisierte Kliniken mehr Geld einbringen für die Betreiber, auch für die Mafia.

"Da heißt es immer: Ja, wir machen das Krankenhaus hier zu und bauen dann irgendwo ein neues, tolles hin. Das neue kommt aber nie", sagt Alfonso Fazio, seit über 30 Jahren Mitglied der Grünen und im Waiblinger Gemeinderat Vorsitzender der AGTiF-Fraktion. Fazio ist einer von vielen Menschen, deren Familien einst aus Italien nach Deutschland eingewandert sind. Der größte Teil, etwa 170.000 Menschen, lebt in Baden-Württemberg. Viele kommen aus Kalabrien, im Rems-Murr-Kreis sehr viele aus Cariati.

Fazio erinnert sich noch gut an den Weihnachts-Urlaub vor einigen Jahren, den er in seiner Heimatstadt verbracht hat. Sein Vater hatte einen Herzinfarkt, also rief die Familie einen Krankenwagen. Der musste ganze 70 Kilometer weit fahren – so weit weg ist das nächste öffentliche Krankenhaus von der kalabrischen Stadt am Meer. "Es ist eine Schande, was da passiert." Und das seit mindestens zehn Jahren, sagt er. 

Funktionstüchtige Kliniken wieder aufmachen

Vor allem eine Schande, weil Cariati eigentlich ein voll funktionstüchtiges Krankenhaus hat. Als es noch geöffnet war, war es Anlaufstelle für mehr als 100.000 Menschen in der Region. Dann wurde es dichtgemacht. Weggespart. Anstatt es aber wieder ins Gesundheitsnetz zu integrieren in diesem von der Pandemie so sehr gebeutelten Land, werden landesweit Zeltstädte aufgebaut, um Corona-Patienten zu versorgen. "Für Milliarden!", sagt Mimmo Formaro, Sprecher der etwa 40-köpfigen Initiative "Le Lampare", die seit dem 19. November das verwaiste Krankenhaus besetzt. Für so viel Geld könne man die städtische Klinik wieder eröffnen, akut für Covid-Patienten und später, um den Menschen in der Region endlich wieder ein anständiges Gesundheitssystem zu bieten. Die Gruppe fordert also: aufmachen, sofort!

Das Gespräch mit Kontext läuft übers Netz, sechs BesetzerInnen sitzen und stehen in einem Zoom-Kästchen, eine Übersetzerin, eine Journalistin vor Ort mit Verwandtschaft im Rems-Murr-Kreis. Im Hintergrund hängt ein Che-Guevara-Poster, Protest-Plakate stehen an den Wänden. Der gesamte Ort sei in die Besetzung involviert, sagt Cataldo Formaro, der ehemals leitende Arzt am Krankenhaus. Weil alle betroffen sind, alle EinwohnerInnen von Cariati. Viele sind sogar in diesem Krankenhaus geboren, bevor es geschlossen wurde. Wie auf Bestellung schiebt einer einen Obstkorb ins Bild – Äpfel, Birnen, Nüsse, gerade – in questo momento – haben den die Nachbarn vorbeigebracht zur emotionalen und geschmacklichen Unterstützung der BesetzerInnen. Im Zoom-Kästchen herrscht großes Hallo. Dann ist wieder Ruhe. Erst sei das Problem des Krankenhausmangels ein regionales rund um Cariati gewesen, irgendwann betraf es ganz Kalabrien, sagt der Arzt Cataldo Formaro.

Medizinisches Personal sei vorhanden, die Ausstattung super, erzählt er, die Klinik hatte eine Radiologie, eine Gynäkologie, ein eigenes Labor, eine Physiotherapie-Abteilung. Die Zimmer seien nach wie vor in perfektem Zustand, es gebe Sauerstoffanschlüsse für Covid-Patienten, die Chirurgie sei super ausgestattet und einsatzbereit, jedes Zimmer habe eine funktionstüchtige Heizung. 

1.000 Kilometer zum Arzt

Das italienische Fernsehen berichtet über die Besetzung, lokale Medien, ein bekannter Arzt aus dem Ort, Cataldo Perri, hat einen offenen Brief in der Zeitung "La Repubblica" veröffentlicht. Gerichtet an den Gesundheitskommissar der Region Kalabrien, an Premierminister Giuseppe Conte, an den Gesundheitsminister Italiens Roberto Speranza. Perri ist selbst krank, Bauchspeicheldrüsenkrebs, und er weiß genau, wie es sich anfühlt, für jede Behandlung stundenlang fahren zu müssen. Im fast 1.000 Kilometer entfernten Bologna war er zur Diagnose, in Verona zur Biopsie, in Rozzano zur Behandlung. Städte, die ganz oben am Stiefel liegen, 1.000 Kilometer entfernt von Cariati. Dort, so beschreibt es der Arzt, seien neapolitanische, apulische, sizilianische und kalabrische Dialekte zu hören, die Menschen kämen von überall, weil es in ihrer Region viel zu wenig Krankenhäuser gibt, und für zu viele Patienten zu wenige Ärzte.

40 Jahre lang hat Perri als Arzt praktiziert, und jedes Mal, so schreibt er in seinem Brief, wenn er einem Patienten eine Krebsdiagnose überbringen musste, habe er gewusst, mit welchen logistischen Strapazen die Betroffenen und deren Familien belastet würden. Ganz abgesehen von der Krankheit an sich. Er schreibt von Busfahrten in den Norden, von anonymen Hotels, in denen Patienten und deren Familien übernachten müssen, wenn ihre Behandlungen länger dauern. "Wir haben es satt zu sehen, wie unsere Lieben in Krankenwagen sterben", schreibt er, wenn sie in weit entfernte Kliniken transportiert werden müssen. Sie haben es satt, überteuerte Rechnungen zu bezahlen, Medikamente aus Mafia-Strukturen kaufen zu müssen. Seit zehn Jahren sei die Klinik in Cariati nun geschlossen, dreimal habe man schon die Grundsteinlegung für eine neue Klink gefeiert, und es sei nichts passiert. "Wie viele erste Steine ​​sollen denn noch gefeiert werden?"

"Wir hier unten sind wie ein verlassener Planet", sagt der ehemalige Klinikleiter Formaro. "Das kann so nicht weitergehen." Dann schiebt sich ein Gesicht aus dem Hintergrund ins Zoom-Fenster, ein Mann, mittleres Alter. Er sagt: "Wir akzeptieren diese Situation nicht länger. Wir Kalabresen sind ein Volk voller Leidenschaft! Wir werden nicht weichen!"


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Magdalena Schrade
    am 09.12.2020
    Antworten
    In W-T-W.org (Women and Finance) gibt es zu der dieser Gegend in Kalabrien einen Artikel vom 13. Januar 2019. Leider schaff ich es nicht, ihn zu verlinken. Wer Interesse hat, kann ihn aber finden.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!