Um politisch handlungsfähig zu sein, brauchen wir die Fähigkeit zum Träumen. Um handlungsfähig zu bleiben, müssen wir unsere Träume herunterholen auf den Boden, auf dem wir heute gehen. Um unser Gehen unaufhaltsam zu machen, langen wir wieder nach den Träumen. Kurz: Für unsere Politik brauchen wir eine Perspektive, die unsere Hoffnungen auf ein gutes Leben einschließt und unsere alltäglichen Schritte leitet.
Ohne Vorstellung – und sei sie noch so ungewiss –, wie eine andere Gesellschaft sein könnte, lässt sich schwer Politik machen, die viele engagiert. Eine Orientierung bietet seit mehr als 150 Jahren die Arbeiterbewegung: Sie zielt auf eine Überwindung entfremdeter Lohnarbeit und kämpft im Hier und Jetzt um Löhne, Tarifabkommen, Arbeitsplätze. Gegen diese ausschließliche Fokussierung der Form des Befreiungsdenkens traten die Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts an, indem sie darauf bestanden, dass es mehr Arbeit gebe als die in Lohnform verrichtete. Sie betonten, dass die häusliche Sphäre sowohl eine Stätte der Unfreiheit sei als auch eine der menschlichen Sorge um einander – und dass die Zurkenntnisnahme von Haus- und Familienarbeit grundlegend sei für ein Denken, dass sich die Befreiung aller Menschen zum Ziel setzt.
Was in den Kämpfen dieser Bewegungen nicht ausreichend zum Vorschein kommt, macht Karl Marx umso deutlicher: dass nämlich die Entwicklung eines jeden die Voraussetzung der Entwicklung aller sei. Übersetzt in unsere nüchterne Sprache meint das, dass es auch Ziel von Befreiung sein muss, die Fähigkeiten, die in den Einzelnen schlummern, zur Entfaltung kommen zu lassen. Und in alledem – in Arbeiterbewegung, in Frauenbewegung, in der Frage der Selbstentwicklung einer jeden/eines jeden – gibt es schließlich eine Voraussetzung, die so grundlegend ist, dass sie extra zu nennen schon überflüssig scheint: Die Befreiung der Menschen kann nur von ihnen selbst unternommen, kann nicht für sie erstritten werden, kann nicht eine Tat von oben sein. "Wenn wir uns nichts selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen", hat der Schriftsteller Peter Weiss für die Arbeiterbewegung geschrieben. Es gilt auch für uns Frauen. Politik also für eine andere Gesellschaft als die jetzige muss Politik von unten sein.
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Barbara Niehaus
am 21.08.2019