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Die Achillesferse

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Die deutsche Demokratie ist verstimmt. Sie ist es nachhaltig. Aber sie hat auch die Substanz, sich zu erneuern und weiter zu entwickeln – wenn die Akteure dies wirklich wollen.

Demonstration gegen S 21. Foto: Martin Storz Die deutsche Demokratie ist verstimmt. Sie ist es nachhaltig. Aber sie hat auch die Substanz, sich zu erneuern und weiter zu entwickeln – wenn die Akteure dies wirklich wollen.

"Vorurteile füllen Wissenslücken." Darauf weist Werner J. Patzelt hin, Politikwissenschaftler an der TU Dresden. "Das Volk macht den Abgeordneten nicht erst ihre Politik, sondern bereits dem parlamentarischen Regierungssystem sein tatsächliches, ordnungsgemäßes Funktionieren zum Vorwurf." Das liege auch an den Parlamentariern selbst, die das Volk nicht nur durch Verantwortungsimperialismus, unnachhaltige Gestaltungsillusionen und sozialpolitische Wählerbestechung verziehen würden, sondern auch einen selbstbezüglichen Mikrokosmos der politischen Klasse aufgebaut hätten. "Die vorherrschenden Vorstellungen und Vorurteile gegenüber unserem politischen System und seinen Repräsentanten sind die politisch-kulturelle Achillesferse unseres Gemeinwesens", so Patzelt. 

Das ist nicht neu. Leider. Doch in den vergangenen Jahren ist mehr geschehen, das nachdenklich machen sollte und Antworten verlangt. Die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 zeigen, dass die Befriedungsformel "Legitimation durch Verfahren" alleine schon lange nicht mehr ausreicht. Der italienische Ministerpräsident Mario Monti behauptet, der Einfluss der Parlamente gefährde die Eurorettung. Regierungen sollten ihre Parlamente erziehen – was zu Ende gedacht nichts anderes als die Umkehrung der Gewaltenteilung bedeuten würde. Und die deutsche Kanzlerin erhebt die Forderung nach einer "marktkonformen Demokratie". 

Wer bitte hat sich nach wem zu richten, ist da zu fragen: die Märkte nach Recht und Gesetz und demokratischen Verfahren – oder die demokratisch gewählten Parlamente nach den ausufernden Interessen der Märkte? Wissenschaftler wie der Wirtschaftssoziologe Oliver Nachtwey sind längst davon überzeugt, die westliche Demokratie habe ihren Zenit überschritten und befinde sich auf dem Weg von einer Postdemokratie zur Postsouveränität. Nachtwey schreibt: "Postdemokratie heißt nach der Finanzkrise, dass über die Finanzpolitik eines Landes nicht die Bevölkerung, nicht das Parlament, ja nicht einmal die Regierung entscheidet." Die Finanzpolitik ganzer Staaten werde von Ratingagenturen, dem IWF und der EU diktiert und von den Regierungen nur noch exekutiert. 

Die Politik muss ihre Sprache verändern

Und Nachtwey warnt: Falls die Demokratie keine Erneuerung erfahre, drohe sie in eine zynische Demokratie, ein technokratisches System formal legitimierter vertikaler Machtausübung zu degenerieren oder gleich Rechtspopulisten in die Hände zu fallen, die die Grundrechte nicht mehr achten. Er sieht die Grundpfeiler einer liberalen und sozialen Moderne in Gefahr, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb so stabil gehalten habe, weil seine Gesellschaften sozialen Aufstieg, Mobilität und Integration, Freiheit, Demokratie und Mitbestimmung ermöglichten. 

Wer sich wie wir über Jahre mit dem Thema Rechtsextremismus befasst und vom Grundgesetz begeistert ist, kann über die Verfassungswirklichkeit und den Zustand der deutschen Demokratie nicht schweigen. Denn die repräsentative Demokratie kämpft derzeit mit einer Verschränkung folgender Probleme: einem Wahrnehmungsproblem, einem Darstellungsproblem, einem Teilhabeproblem und mit Leistungsproblemen.

Wie können wir den Defiziten entgegenzuwirken? Ich will hier fünf Vorschläge nennen:

Politik muss ihre Sprache verändern und ihre Rituale überprüfen. Die Menschen misstrauen einer Sprache, die ihnen fremd erscheint und die sie häufig nicht verstehen. Häufig, wenn auch nicht immer zu Recht, gewinnen sie den Eindruck, es gehe lediglich um selbstverliebte Machtspielchen und nicht um den Wettstreit unterschiedlicher Ideen, Wertvorstellungen und Konzepte.

Eine lebendige Demokrate ist kein Ponyhof und nicht billig zu haben

Die Anforderungen an die journalistische Politikvermittlung sind gewachsen. Manches Format scheint in seiner Wirkung die politische Wirklichkeit eher zu verzerren. Die journalistische Ausbildung sollte das notwendige Sachwissen über die Feinmechanik demokratischer Prozesse ebenso vermitteln wie die Haltung einer professionellen und kritischen Distanz.

Die Zeit ist reif für mehr direkte Demokratie und frühzeitige Beteiligung auf allen Ebenen politischer Institutionen – aber nicht nur dort. Das kann anstrengend sein und birgt Risiken. Beispielsweise, dass interessierte Eliten Projekte dominieren und Strukturen gesellschaftlicher Exklusion eher verstärken, statt sie aufzubrechen. Doch die Chancen sind allemal größer als die Gefahren. Eine lebendige Demokratie ist kein Ponyhof und auch nicht billig zu haben. Auf Baden-Württemberg bezogen heißt dies: die Hürden für solche Verfahren sind grotesk hoch. Es bleibt ein Rätsel, warum die CDU offensichtlich noch nicht erkannt hat, wie gut eine deutliche Absenkung der Hürden einer lebendigen Demokratie, dem Verhältnis zwischen Bürger und Politik und der CDU als Oppositionspartei täte.

Demokratiepädagogische Unterrichtsmethoden wie "Service-Learning – Lernen durch Engagement", Angebote wie das Freiwillige Soziale Jahr im Politischen Leben (FSJ Politik) und Modellprojekte wie das Planspiel Kommunalpolitik leisten Aufklärung über die internen Abläufe und Funktionsweisen unserer Demokratie. Sie bieten jungen Leuten Raum, Demokratie aktiv zu erleben, und motivieren zu weitergehendem Engagement. Solche Ansätze müssen in die Fläche. Uns ist dabei sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht reicht, bei Gymnasiasten (halb)offene Türen einzurennen. Begeisterung für unsere Demokratie zu wecken und politische Bildung zu vermitteln ist gerade dort am nötigsten, wo die sozialen Schieflagen am stärksten ausgeprägt sind. 

Auch Deutschland ist gefordert, die europäische Idee fortzuentwickeln

Wir meinen, wenn die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung, die politischen Stiftungen und die kirchlichen Akademien etwa selbstkritisch überprüfen, wen sie mit Ihren Angeboten tatsächlich erreichen, werden sie erkennen, dass sie noch große Herausforderungen vor sich haben. Ihnen angesichts dessen Gelder zu kürzen, halten wir schlicht für kontraproduktiv. 

Es gilt über Grenzen zu denken, um das demokratische Leistungsdefizit in Europa zu beheben. Es darf aufrechte Demokraten nicht in Ruhe lassen, wenn die internationalen Fortschritte in Fragen des Freihandels ungleich größer sind als bei Arbeitnehmerrechten und demokratischer Mitsprache. Die Demokratiedefizite und die Intransparenz innerhalb der EU-Strukturen sind enorm. Europa darf aber kein Elitenprojekt bleiben, das von nationalen Regierungen als Sündenbock für missliebige Entscheidungen eingespannt werden kann, obwohl man selbst mit am Tisch saß. Auch Deutschland ist gefordert, die europäische Idee im Sinne einer ernsthaften Demokratisierung der EU fortzuentwickeln.

 

Der Publizist Stephan Braun war von 1996 bis 2011 SPD-Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg. Er beschäftigte sich in dieser Zeit vor allem mit den Themen Jugend und Bildung, Rechtsextremismus, Verfassungsschutz sowie Zuwanderung und Integration. Jetzt hat er zusammen mit Alexander Geisler einen Sammelband mit dem Titel "Die verstimmte Demokratie – Moderne Volksherrschaft zwischen Aufbruch und Frustration" herausgebracht.

 


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