Herr Möser, wer heute noch eine Berufskarriere in der Automobilindustrie anstrebt, findet sich bald als Auslaufmodell wieder, oder?
Aber ganz und gar nicht! Wieso das denn?
Weil Politiker – allen voran Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann – die Grenzen des automobilen Massenverkehrs gekommen sehen und vernünftige Mobilitätskonzepte weitgehend ohne eigenes, privat besessenes Auto einführen wollen.
Dann wünsche ich dabei diesmal viel Erfolg. Aber ich fürchte, daraus wird, wie schon früher so oft, wiederum nichts werden. Diese sogenannten vernünftigen Mobilitätskonzepte begleiten die gesamte bisherige Geschichte des individuellen Massenverkehrs. So hat man etwa in den 50er-Jahren Kabinenbahnen oder Rufbusse favorisiert. Konzepte, dass es neue Formen zwischen Individual- und Kollektivverkehr geben müsse, haben schon immer Konjunktur gehabt. Wie gesagt, bereits in den 50er-Jahren, als in Deutschland gerade mal 4,5 Millionen Autos fuhren, heute sind es über 40 Millionen. Auch in den 80er-Jahren hieß es wieder, das individuelle Auto habe sich überlebt. Nicht von ungefähr stieg Daimler-Benz damals in den Flugzeugbau ein. Und, wie wir wissen, kurze Zeit später wieder aus. Heute steht die Daimler AG mit ihrem Kerngeschäft Auto sehr gut da auf dem Weltmarkt.
Aber bekanntlich stehen Anschaffung und Unterhalt eines eigenen Autos in keinem Verhältnis zum ökonomischen Nutzen. Autofahrer zahlen unvernünftig viel Geld für den Besitz und den Unterhalt eines eigenen Wagens, nutzen ihn für diese Investition viel zu selten. Da wären Carsharing und guter öffentlicher Nahverkehr doch wirklich die rationalere Lösung.
Rationaler? Das schon. Aber es geht beim Auto höchstens unter dem Punkt "ferner liefen" um Rationalität, wenn überhaupt. Das Auto ist zwar auch ein Verkehrsmittel, aber wer es mit seinen vernunftbetonten Mobilitätskonzepten vor allem als leicht ersetzbares Transportvehikel für Menschen und Güter von A nach B versteht, greift viel zu kurz. Er unterschätzt vollkommen die Rolle des Automobils als Spaßmaschine, als Besitz-, Sucht-, Technik- und Designobjekt – kurz, als irrationales, faszinierendes Gefährt und Gefährten. Die Verkehrswissenschaftler tun diese Rolle gerne als "sekundäre Funktionen" ab, die zur "eigentlichen", der "primären", hinzukommen. Das ist Unsinn. Längst dominieren in den vollmotorisierten Gesellschaften die sekundären Funktionen. Die Mehrzahl aller Autofahrten in Deutschland erfolgt zum Vergnügen. "Irrationale" Fahrzeuge wie Spaßautos, etwa Cabrios, Offroader, Oldtimer oder Motorräder boomen ungebrochen. Auch "konventionelle" Autos sähen ganz anders aus, wären sie nur vernünftig. Und sie würden länger genutzt als 50 Minuten täglich im Mittel.
Das mag ja sein, aber politisch korrekt klingt das in zeitgenössischen Ohren und mit dem Klimawandel vor Augen ja nicht.
Politisch korrekt war das Auto von Anbeginn an ohnehin nie. Als bloßes Transportvehikel hätte es wohl kaum diese Massenverbreitung gefunden, jenseits aller Kosten-Nutzen-Abwägungen. Von seinen Anfängen an erwies sich das Auto als Systemstörer, hat ganze Dorfbevölkerungen gegen sich aufgebracht. So gab es zum Beispiel zur vorletzten Jahrhundertwende Peitschen speziell für Automobilisten zu kaufen, mit denen sie trödelnde Passanten und aufgebrachte Querulanten vertreiben konnten. Schon immer barg das Auto über seine bloße Transportfunktion hinaus ganz andere Verheißungen und subversive Attraktionen: Besitz, Status, Geschwindigkeit, Aggression, Angeberei, Lust. Um das Auto waren und sind dunkle Begierden angesiedelt. Kein Wunder, dass die Geschichte von oben geplanter alternativer Mobilitätskonzepte eine einzige Misserfolgsgeschichte war. Die Nutzer und das Artefakt Auto waren immer eigen-sinnig. "Vernünftige Mobilität" ist eine Monstranz, die Politiker vor sich hertragen, weil sie das Auto letztlich nicht verstehen.
Na gut, aber zumindest ist doch ein Trend zu kleineren, sparsameren Autos erkennbar, schon wegen der steigenden Spritpreise. Von Elektroautos noch gar nicht zu reden. Steckt darin nicht schon eine Lösung vieler Verkehrsprobleme?
Auch so ein Irrtum, der auf der Unkenntnis über das Kauf- und Betreiberverhalten in einer voll- und übermotorisierten Gesellschaft fußt: Bietet die Industrie solche Fahrzeuge an, so ersetzen sie die bestehenden spritfressenden Modelle nicht, sondern ergänzen sie – "Sparautos" besetzen die letzten Nischen des Marktes, vermehren die Autoflut und parken die Städte noch weiter zu, weil sie als Zweit- oder Drittwagen gefahren werden. So verschärfen sie das Problem. Ganz abgesehen davon, dass in Deutschland pro Haushalt mehr für Anschaffung und Unterhalt eines Autos als fürs Essen ausgegeben wird. Die Kosten-Schmerzschwelle ist also ohnehin schon sehr hoch angesiedelt.
Diese Schmerzschwelle dürfte aber spätestens dann überschritten sein, wenn der permanente Massenstau letztlich doch zum Umsteigen auf andere Verkehrsmittel zwingt.
Wiederum eine naive Annahme der jahrzehntelangen Autokritik. Der Problemdruck kilometerlanger Massenstaus mag hoch sein, aber er ist offenbar noch längst nicht hoch genug. Im technisch hochgerüsteten Privatraum Auto mit Wohnambiente ist durchaus gut telefonieren, chatten, Nasebohren. Längst orientiert sich die Industrie auch am Stauauto, das Kühlschrank, Informations- und Unterhaltungsmedien integriert hat und über drehbare Sitze verfügt, um die stauende Kleinfamilie im trauten Kreise zum Inside-Auto-Stau-Picknick zu vereinen. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Die Macht der Mobilitätsillusionen kann offenbar die alltäglichen Kränkungen im Massenverkehr kompensieren. Es geht bei der Mobilität immer auch ums Potenzielle, nicht nur ums Reale. Schon die bloße Möglichkeit, den Mobilitätsdrang erfüllen zu können, scheint manchmal zu reichen. Zum Beispiel, dass man in 3,9 Sekunden von null auf 100 Stundenkilometer beschleunigen könnte, wenn man nicht gerade im Stau stünde. Dass man mit dem Geländewagen ja "jederzeit rechts rausfahren" könnte, böte diese Autobahn nicht eine so hartnäckige Leitplanken-Begrenzung. So erlebt, erscheint der Normalfall Stau immer noch als Ausnahme: Hinterm Horizont geht's weiter. Kurz, die individuell mobilen Verkehrsteilnehmer haben sich an ein hohes Niveau der Ineffizienz gewöhnt. Finanziell wie stautechnisch.
Oder, wie der Philosoph Peter Sloterdijk gesagt hat: Das Auto ist eine um den einzelnen Fahrer herumgebaute platonische Privathöhle, die sich in ihrer archetypischen Gewalt als völlig immun gegen Aufklärung erweist?
Genau! Autofaszination ist ein Teil unserer eigenen Gefühlsgeschichte. Wir dürfen sie nicht wegschieben. Wir müssen sie begreifen. Und hier hat die Technikgeschichte einiges beizutragen.
Also gute Zukunftsaussichten fürs Auto, gute Perspektiven für Karrieresucher in der Automobilindustrie?
Auf jeden Fall. Nicht zuletzt die guten Verkaufszahlen der deutschen Automobilhersteller sprechen da eine beredte Sprache. Krisenhafte Konjunktureinbrüche mögen zwar regelmäßig ihre Bremswirkungen in der gesamten Branche entfalten, aber dauerhaft wird sich der 120-jährige Siegeszug des Faszinosums Automobil nicht kollektiv – und vor allem nicht durch politische Regulierungsanstrengungen – ausbremsen lassen. Die gesamte Technikgeschichte zeigt beständig ein Parallelwachstum von Altem und Neuem. So haben wir bis heute die Utopie vom papierlosen Büro durch Unmengen von zusätzlich benötigtem Druckerpapier ad absurdum geführt. Ebenso die Illusion, dass das Internet etwa durch Social Media oder Skype die leibhaftige Mobilität auf Straße, Wasser, Schiene oder in der Luft über kurz oder lang überflüssig machen würde. Auch das widerlegen steigende Zahlen übers weltweite Verkehrsaufkommen.
Wohin rollt denn das Auto der Zukunft? Nicht von ungefähr engagieren sich immer mehr Autohersteller in Carsharing- und Mietwagenlösungen auf Zeit vor allem im innerstädtischen Verkehr. Von ihren Anstrengungen in Richtung alternative Antriebe – Hybrid, Elektro-Auto, Brennstoffzelle etwa – gar nicht erst zu reden. Das spricht doch für eine Ablösung des Privatautos?
Sicher, das sind alles neue und keineswegs triviale Herausforderungen für die Automobilbranche, für die sie kreative und kluge Köpfe braucht. Aber keiner sollte sich der Illusion hingeben, dass solche Nischen- und Zusatzgeschäfte, die es natürlich auch zu sichern gilt, eine ganz neue Ära der individuellen Massenmobilität einläuten und das tradierte Modell über Bord kippen könnten. Das Elektroauto ist seit 100 Jahren eine permanente Zukunftshoffnung, und die Erwartung, die Energiespeicherprobleme seien durch eine innovative "Wunderbatterie" in allernächster Zukunft zu lösen, ist genauso alt. "Rationale" Mobilitätskonzepte haben auch eine wichtige Zusatzfunktion, egal ob sie nun eingeführt werden oder in der Konzeptschwebe bleiben: die Akzeptanz von Mobilität zu sichern und ein Reservat für das gute Gewissen 'bewusster' Verbraucher zu bilden. Wie ich oben schon über die spritsparenden Kleinwagen sagte: Es geht nicht um Ersatz, sondern um eine problemadäquate Ergänzung der individuell erlebbaren Bewegungslust auf vier Rädern mit mittlerweile komfortablem Wohnzimmerambiente.
Letzteres offenbar nicht zuletzt, um die im Stau verbrachte Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Was bedeutet das für künftige Autoentwickler? Müssen sie mehr Kompetenz als Innenarchitekten denn als Experten für elektronische Einspritzsysteme und Motorenoptimierung an den Tag legen?
Beides! Allerdings ist nach meiner Wahrnehmung das Technische heute ziemlich heruntergespielt, ohne dass man es so recht zugibt; es rutscht ins Symbolische. Unter dem Blech ist die Technik heute so homogen wie nie zuvor. Dem Fahrer wird spielerisch Kompetenz zugewiesen, die er gar nicht mehr benötigt. Ein Beispiel ist der Drehzahlmesser bei Automatikgetrieben. Dazu kommt die ganze Palette an Fahrerassistenzsystemen, vom Radarabstandswarner bis zur elektronischen Einparkhilfe. Schon bald bräuchte es den Fahrer gar nicht mehr, er kann demnächst auf Autopilot schalten. Aber das raubte ihm wiederum die – natürlich auch angebotsseitig nahegelegte – Illusion, jederzeit Herr oder Frau übers eigene Auto und das Geschehen auf der Straße zu sein. Dazu ergänzend gibt es schon länger den Trend zum kokonartigen, von der belastenden (und durch das eigene Fahrzeug belasteten) Umwelt isolierten Schon- und Intimraum, der aufwendig gestaltet und materialmäßig außerordentlich aufgerüstet wird: Lederhaptik, Geruch, Klima-, Zusatzbelüftungs-, Beschallungszonen.
Da gab es mal eine Autoreklame, in der ein Mann, wohl gerade am Flughafen in einem heißen Wüstenland gelandet, umgeben von Gebrüll und Gelärm, in die Limousine des Herstellers stieg. Die Tür machte "plopp", plötzlich himmlische Ruhe, und er lehnte sich entspannt zurück.
Ja klar, diese Reklame kenne ich auch. Die transportiert genau dieses Kokongefühl, diese Anmutung der platonischen Höhle, wie Sloterdijk sie nannte. Ganz nach dem Motto: Hinweg, böse Welt, hier bin ich zu Hause, in meiner ganz eigenen, persönlichen Komfortzone auf vier Reifen.
Nehmen wir einmal an, vernunftgesteuerte Mobilitätslösungen à la Kretschmann setzten sich doch durch. Könnten wir uns auf die vom Konstrukteur des 911er-Rennwagens, Ferry Porsche, vor 40 Jahren geprägte, weitsichtig anmutende Vision: "Das letzte Auto, das gebaut werden wird, wird ein Sportwagen sein", verständigen? Vielleicht sind es dann aber nicht mehr Sportwagen, sondern hochkomfortable, rollende Wohnzimmer?
Mal abgesehen davon, dass es nach wie vor nur Wunschdenken ist, dass die Menschen mobilitätsmäßig vernünftiger werden. Doch Ferry Porsche könnte recht behalten. Bekanntlich sollte ja das Automobil das Pferd verdrängen. Wissen Sie, dass Deutschland 1926 mit knapp 1,6 Millionen Pferden den höchsten Bestand hatte? Heute sind es ungefähr eine Million Pferde, die sich in deutschen Höfen und Reitställen tummeln. Als Transportmittel? Nein, vor allem als vierbeiniges Spaß- und Sportmobil und als sehr großes Haustier. Daran kann man schön nachvollziehen, wie das Neue das Alte eben nicht ein für allemal aus dem Verkehr zieht, also obsolet werden lässt. Sondern, dass das Alte in neuer Funktion munter weiterlebt. Insofern sage ich auch unseren Studierenden: Leute, die Automobilbranche und die Automobilgeschichte bieten noch viele, viele Chancen.
Kurt Möser, 57 Jahre, ist Technikhistoriker und seit 2009 Professor für Neue und Neueste Geschichte am Karlsruhe Institut für Technologie (KIT). Der 57-jährige ist Forscher und Autor zahlreicher Bücher und Studien über Technik- und Mobilitätsgeschichte.
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