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"Sehr geehrtes Christuskind ..."

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Die meisten Menschen halten sich nicht für rettungsbedürftig. Zur Weihnachtszeit singen viele trotzdem gerne "Chri-hist der Retter ist da". Ein Sonderling macht sich Gedanken über die Erbsünde, ewige Verdammnis und die sagenhafte Popularität des christlichen Glaubens. Ein offener Brief ans Christuskind.

" ... ich weiß natürlich nicht, ob Du Menschengemachtes überhaupt noch zur Kenntnis nimmst. Womöglich bist du inzwischen derart enttäuscht vom Homo sapiens – Du kannst ja sicher mittlerweile ein bisschen Latein –, dass Du dir der Einfachheit halber Augen und Ohren zuhältst. Ein bißchen ungerecht wäre das natürlich, weil auf höchst mysteriöse Weise sind wir ja auch Deine Geschöpfe, Stichwort Trinität oder zu Deutsch Dreifaltigkeit, Du weißt schon.

Ich schreibe Dir trotzdem, weil Wunschzettel ein uralter Brauch in dieser Jahreszeit sind. Bräuche und Gewohnheiten hat man gern hier unten (sind gut fürs Wir-Gefühl). Auch deshalb gibt es ja schon seit Wochen in den Kaufhäusern unentwegt 'Sti-hille Nacht' oder 'O du fröhliche', wie alle Jahre wieder. Erfahrungsgemäß steigert das die Kauflaune (ist gut für die Konjunktur) und zugleich eine weihevolle Stimmung (ist gut für Dich). Stichwort gut. Darum, also ums irgendwie Nützliche, dreht sich ja alles in der Evolution, aber von der verstehst Du nichts, sehr geehrtes Christuskind. Jedenfalls sehen die Leute in Dir seit eh und je so eine Art Inbegriff vom Guten. Dewegen kommst Du speziell in der Weihnachtszeit dauernd vor; in den anderen Jahreszeiten eher weniger.

'Chri-hist der Retter ist da', singen Jung und Alt am sogenannten Heiligen Abend, und den Sentimentalen unter den Erwachsenen tritt dann oft verstohlen eine Träne ins Auge. Wenn ich da gleich mal den ersten Wunsch loswerden dürfte (ich will nämlich weder Hemd noch Schal und auch keinen Gutschein für den Flieger nach Malle): Mach doch mal, dass die Leute sich wenigstens ein paar Minuten überlegen, was sie sich da eigentlich alles widerspruchslos anhören und sogar selber von sich geben. Das ist nämlich echt der Hammer. Zum Beispiel halten sich die allermeisten Leute, die ich so kenne, gar nicht für rettungsbedürftig, auch nicht von Dir. Ziemlich viele sind sogar ziemlich überzeugt von sich, auch wenn mir persönlich das nicht immer in dem Maße einleuchtet. Ob das aber zum Text von 'Sti-hille Nacht' passt oder nicht, scheint ihnen komplett schnuppe zu sein.

Jedenfalls: Wenn ich ihnen mit der Erbsünde komme und deren laut Bibel äußerst unangenehmen Folgen, fällt ihnen immer gleich ein anderes Thema ein, das Wetter beispielsweise oder wie teuer alles ist. Und wenn ich dann nachhake und sie darauf aufmerksam mache, dass laut Bibel dermaleinst nur ziemlich wenige ins Paradies gelassen und die anderen schmoren werden, dann gelte ich ihnen als Sonderling. Nicht wenige von denen gehen aber gewohnheitsmäßig zu Weihnachten in die Kirche und sprechen dort Worte wie diese: '... von wo er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten.' Wahrscheinlich tun sie das auch wegen dieses feierlichen Kribbelns, und das ist ja etwas Schönes. Hinzu kommt wohl dieses religiöse Allianz-versichert-Gefühl, das beruhigt und ist insofern wieder etwas Nützliches. Ritus und Tabu, hätte Sigmund Freud vielleicht gesagt, aber diesen gottlosen Heiden kennst Du wieder nicht, sehr geehrtes Christuskind.

Dein Image ist und bleibt jedenfalls super. Die allergrößten Menschen können nur träumen davon, sogar Götze(!) oder Ronaldo. Und das, obwohl es doch für die allermeisten richtig eng wird, wenn es so kommt, wie Du prophezeit hast. Dass Du es trotzdem in zweitausend Jahren zu einem Mega-Ansehen und einer kolossalen Popularität gebracht hast, das ist Wahnsinn! Wenn Du mir wenigstens mal in groben Zügen verraten könntest, wie Du das hinkriegst – das wäre toll. Das war schon mein zweiter Wunsch. Und wenn Du gerade dabei bist, das eine oder andere zu klären, dann lass mich doch bitte auch gleich wissen, wieso Ihr drei da oben (siehe Trinität) jemanden auf ewig verdammen wollt, bloß weil der nicht an Euch glaubt. Wir leben heutzutage in einer Demokratie, sehr geehrtes Christuskind, auch davon verstehst Du natürlich nichts.

Das heißt unter anderem, dass man nicht bestraft wird wegen seiner Meinung. Das ist auch gut so, und das muss doch auch für Religionsangelegenheiten gelten. Das könnte sogar Euch da oben klar sein, jedenfalls bei etwas Nachdenken. Mein dritter und letzter Weihnachtswunsch, man soll ja nicht unbescheiden sein, geht ganz schnell: Macht, dass wenigstens das größte Elend in Eurer Schöpfung endlich aufhört. In der Schule lernt man, dass ganz bestimmt Dein Vater ohne Weiteres dafür sorgen könnte, wenn er wollte. Ich ahne, warum er es nicht tut, aber dazu ganz unten mehr.

Jedenfalls lassen sich Eure Anhänger viel einfallen, wenn es darum geht, ihn in Schutz zu nehmen. Mal schieben sie dem Menschen und seinem sogenannten freien Willen die Schuld zu für alles Böse auf der Welt, und wenn das nicht geht, wegen Erdbeben, Dürre oder Flutkatastrophe, dann sagen sie, man kann eben nicht alles mit dem Verstand klären. Also da könnt Ihr da oben echt stolz sein auf Eure Anhänger.

Sehr geehrtes Christuskind! Natürlich hast Du weder Zeit noch Lust zu lesen, was Menschen so alles schreiben. Es ist ja auch wirklich viel Schrott dabei. An Deiner Stelle würde ich aber eine Ausnahme machen und mir für untern Weihnachtsbaum, falls Ihr so etwas auch aufstellt, das jüngste Buch von Kurt Flasch holen lassen. Es heißt 'Warum ich kein Christ bin', handelt also von Euch beiden da oben und erklärt, wieso ein frommer, aber kluger Mensch seinen langen Abschied genommen hat vom Glauben. Der Professor Flasch ist leider nun auch schon 83, und deshalb hat er neulich gesagt: 'Jetzt, da es auf das Ende zugeht, habe ich gedacht, wenn du demnächst vor dem Weltenrichter stehst, dann willst du doch ein Buch in der Hand haben, in dem steht, dass es ihn nicht gibt.' So etwas sollte zu denken geben.

Mit weihnachtlichen Grüßen, auch für 2014 nach Christus,

ein Mensch."


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6 Kommentare verfügbar

  • Hans Reißinger
    am 09.01.2014
    Antworten
    Hallo Herr Henkel,
    ein früherer deutscher CDU-Kanzler hat einmal deutsche Literaten als Pinscher bezeichnt. Nachdem der göttlichen Trinität auch das Attribut "Majestät" zukommt, hat sie im Bereich ihrer Räumlichkeiten gewiss ein Vorzimmer eingerichtet, in dem besagter Kanzler als Postfilter…
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