Schönen guten Abend im Theaterhaus,
meine Damen und Herren, heute bin ich der Festredenhalter. Nach meiner Erfahrung rangiert diese Sorte Dienstleister in der sozialen Hierarchie weit unter dem Hundehalter und dem Seifenhalter.
Ohnehin erscheint es mir auf den ersten Blick etwas merkwürdig, öffentlich einen zweiten Geburtstag zu feiern – man könnte meinen, aus diesem Jubiläum spricht die Angst der Eintagsfliege. Der bleibt bekanntlich wenig Zeit für Partys zwischen Taufe und Beerdigung.
Eine Zeitung wie Kontext müsste, denke ich, nicht so hektisch ihre Existenz nachweisen, nach dem Motto: Hurra, wir tippen noch. Kontext erscheint ja nicht nur auf Papier, das ungeduldig auf die Grüne Tonne wartet. Man kann dieses Blatt auch im Internet lesen. Und im Moment ist nicht damit zu rechnen, dass der Strom abgestellt wird, weil mit Strom ja mehr Kohle denn je zu verdienen ist – wie es uns die Pforzheimer Leuchte Mappus gelehrt hat.
Selbstverständlich gibt es gute Gründe, sich heute hier in den ehemaligen Rheinstahlhallen festlich zu versammeln. Heute ist der 1. Mai, und dieser Tag hat ganz erheblich mit dem Journalismus und der Presse zu tun. Meine Damen und Herren, die Älteren unter Ihnen, die ihr Gedächtnis noch nicht im Trillerpfeifen-Konzert der Demos gegen Stuttgart 21 verloren haben, werden sich erinnern:
Am 1. Mai 1886 erwacht in den USA der Widerstand gegen die Ausbeutung des Proletariats. Zehntausende Arbeiter ziehen durch die Straßen von Chicago, unter ihnen der Deutsche August Spies. Herr Spies ist ein hessischer Förstersohn, gottlob kein grüner Ökospießer, sondern Sozialist. Er ist einer der Führer der Arbeiterbewegung, hat in Chicago die deutschsprachige "Arbeiter-Zeitung" gegründet. Von den Schissern der Sozialdemokratie hat er sich abgewandt und den revolutionären Anarchisten angeschlossen. Seine Kollegen von der bürgerlichen Presse hetzen deshalb gegen ihn, was das Zeug hält, und als in den Straßenkämpfen der ersten Maitage in Chicago eine Bombe explodiert, fordern die saturierten Propagandablätter, ein Exempel zu statuieren. So geschieht es: Ohne den geringsten Beweis für eine Schuld verurteilt das Gericht August Spies zum Tod. Im November 1887 wird er zusammen mit drei Mitstreitern gehängt.
16 Jahre später wird das Urteil annulliert, und daraus lernen wir: Eine korrupte Justiz gibt es nicht nur in Stuttgart.
Der historische Mai von Chicago erzählt uns etwas: Zeitungen waren mal eine Macht. Zeitungen konnten einen Streik anzetteln und den Streikführer an den Galgen bringen. Viele glauben, das sei heute noch so ähnlich. In Wahrheit hat die Propagandamaschinerie der Gegenwart mit dem Journalismus der Bleizeit – Leute wie der Kontext-Chef Josef-Otto Freudenreich kennen ihn noch aus der Praxis – nicht mehr viel gemein. Das hat nicht nur mit der Abschaffung des Galgens zu tun.
Wenn heute die Aktivisten der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 über die Presse schimpfen, richtet sich ihr Zorn zu Recht gegen die überheblichen Meinungsabsonderungen konservativer, neoliberaler Kommentatoren. Sie vermissen zudem in der nachrichtlichen Berichterstattung die Objektivität und ärgern sich über einen parteiischen Journalismus. Im Journalismus allerdings gibt es grundsätzlich keine Objektivität. Das Problem von Wahrheit und Unwahrheit ist nicht die Meinung. Es ist simpler: Subjektive Berichterstattung beginnt schon bei der Auswahl der Nachrichten, die veröffentlicht oder unterschlagen werden.
Karl Kraus hat in seinem Lied von der Presse gereimt:
"Sie lesen, was erschienen,sie denken, was man meint. Noch mehr lässt sich verdienen,wenn etwas nicht erscheint."
Das bedeutet: Schon die unterdrückten Nachrichten sind die wahre Lüge. Hinzu kommt, dass denkfaule Journalisten heute das Lügenvokabular der Marketingpolitik übernehmen. Wenn Menschen entlassen werden, spricht man von Marktanpassung, wenn Zuschüsse gestrichen werden, von sozialem Ausgleich.
Meine Damen und Herren, unsereins hat heute Abend eine etwas merkwürdige Rolle: Als Festredenhalter zum zweiten Geburtstag eines alternativen Medienprodukts hat Kontext ausgerechnet einen Vertreter jener Stuttgarter "Presse" gewählt, die vielen aufgeweckten Zeitgenossen als das Übel des Journalismus schlechthin gilt. Als verlängerter Arm von Spekulanten und deren Politikern. Ich erinnere mich, wie ich einmal von einer Gruppe Demonstranten mit den Worten empfangen wurde: "Jetzt kommt einer vom 'Stürmer'." Man muss das sportlich nehmen. Ich war früher Torwart.
Ich komme zu einem Thema, das mir seit den Tagen der amerikanischen Occupy-Bewegung am Herzen liegt. Nachdem ich zufällig als Tourist die Besetzung des Zuccotti-Parks in New York mitgekriegt hatte, beschäftigte ich mich etwas intensiver mit den Regeln des Protests. Dabei blieb mir vor allem dieser Satz der Occupy-Vordenker im Gedächtnis: "Scheiß auf die Bullen, aber sei freundlich zu den individuellen Beamten."
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich habe im Moment kein Polizeiproblem, vielmehr sehe ich den zitierten Satz als Leitfaden für die politische Arbeit.
Die Stuttgarter Bürgerbewegung, ohne die es eine Redaktion wie Kontext nicht gäbe, tut sich keinen Gefallen, wenn sie pauschaliert. "Die Presse" ist kein einheitlich gelenktes Propagandainstrument, sie besteht aus Individuen, darunter zweifellos auch opportunistische Beamten. Dennoch ist es ein Irrtum zu glauben, tagtäglich gehe der große Zensor mit dem Hackebeil durch die Redaktionen und zwinge alle Journalisten, das zu schreiben, was wir später lesen. Im Grunde, meine Damen und Herren, ist es schlimmer: Viele schreiben freiwillig, was sie schreiben, und sie tun es aus Überzeugung. Sie wollen mitschwimmen im Abwasser der Mächtigen und auf der Tribüne neben Medienhelden wie Uli Hoeneß oder Rezzo Schlauch sitzen.
Zwei Jahre Kontext, meine Damen und Herren. Als ein halbes Dutzend Journalisten, darunter ehemalige Redakteure der "Stuttgarter Zeitung", der "Stuttgarter Nachrichten" und von "Sonntag Aktuell", im Frühjahr 2011 das Magazin Kontext ins Leben riefen, sagte ihr Sprecher dem "Spiegel", er habe genug vom "Angsthasenjournalismus".
Richtig ist, dass einige seiner ehemaligen Kollegen auch heute alles andere als Feiglinge sind. Da gibt es durchaus welche, die mutig den Kopf hinhalten – auch wenn der nicht gleich wie jener von August Spies am Galgen landet.
Meine Damen und Herren, mir geht es hier nicht darum, Journalisten zu rechtfertigen beziehungsweise die Art und Weise, wie wir unser Auskommen verdienen. Das ist in vielen Arbeitsbereichen eine heikle Angelegenheit, wenn man moralische Maßstäbe ansetzt. Und ich darf guten Gewissens behaupten: Auch wir von den konventionellen Medien haben unseren Kopf nicht nur, um ihn einzuziehen.
Es geht mir um etwas anderes: Damit die Stuttgarter Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21, damit die demokratischen Initiativen gegen die Politik der Wirtschaftslobbyisten weiterhin effektiv arbeiten können und in der Lage sind, sich thematisch und strategisch auszuweiten, was dringend notwendig ist, müssen die Kräfte gebündelt werden.
Dann gilt für mich der Satz: Scheißt auf Eitelkeiten, seht genau hin, wer bereit ist, etwas zu tun, wer der demokratischen Bewegung hilft.
Der 1. Mai ist ein guter Tag, um an die Solidarität der oppositionellen außerparlamentarischen Kräfte zu appellieren, auch wenn das Wort Solidarität für manchen abgedroschen klingt.
Es gibt reichlich zu tun in dieser Stadt, um ihre weitere Zerstörung zu verhindern. Denken Sie an den herrschenden Mietwahnsinn, an die zunehmende Armut oder an die gefährlichen, nach wie vor unterschätzten Neonazis, die sich im Umfeld Stuttgarts breit machen.
Die Protestbewegung, die kritischen Bürger dieser Stadt brauchen ein funktionierendes, ein finanziell einigermaßen unabhängiges Informationsnetz. In diesem Netz spielt Kontext eine wichtige Rolle. Aber das wäre kein Grund für eine Handvoll Journalisten, sich als Elite zu verstehen und auf ein womöglich weniger professionelles Engagement innerhalb der Bürgerbewegung herabzuschauen.
Die Menschen in dieser Stadt haben in den vergangenen Jahren unglaublich viel auf die Beine gestellt, sie haben Unterstützung verdient, auch journalistisch. Sie brauchen Anlaufstellen, und diese Anlaufstelle ist im Zweifelsfall auch ein Journalist mit einem Restgewissen oder zumindest Eiern in der Hose. Im Übrigen gibt es Probleme mit der Meinungsfreiheit nicht nur in den privatwirtschaftlichen Printmedien. Die öffentlich-rechtlichen Sender verleugnen trotz unserer Gebührenzahlung ihren Kulturauftrag und verdingen sich als Sprachrohr der herrschenden Politik.
Als Zeitungsfritze, diese private Bemerkung sei erlaubt, habe ich vierzig Jahre auf dem Buckel, habe also vom Bleikasten bis zum Blog ein paar Dinge mitgekriegt. Es ist kein Spott, wenn ich sage: Auch Kontext ist im Moment noch eine relativ altertümlich gesteuerte Zeitung. Und wohl das einzige Online-Magazin der Welt, für das online Redakteure arbeiten, die online oft gar nicht präsent sind. Das kommt mir vor, als wollten die Altvorderen das Internet mit Tipp-Ex überlisten. Nach dem Motto: Gelernt ist gelernt.
Fairnesshalber sei hinzugefügt: Einige Dinge bei dieser Zeitung, so wird versichert, sind in Arbeit. Man ist dabei, die Lokomotive von Kohle auf Strom umzustellen, auch wenn es vor allem die Kohle ist, die diesem journalistischen Energie-Unternehmen hinten und vorne fehlt. Aber keine Bange, meine Damen und Herren: Das war kein Aufruf, Geld zu spenden. Ich bin nicht vorbestraft wegen Bettelei.
Und an dieser Stelle muss es mal gesagt werden: Es ist ein Unding, wenn viele Leute der Meinung sind, Autoren- und Fotografenarbeit sei grundsätzlich umsonst zu leisten. Nur weil etliche Schnorrer heute in der Lage sind, in drei Zeilen fünf Fehler plus ein Handy-Foto von der jüngsten Demo auf Facebook zu posten.
Meine Damen und Herren, es ist nicht die vornehmste Aufgabe des Festredners, das Publikum und seine Auftraggeber zu beschimpfen. Aber machen wir uns nichts vor: Der Journalismus ist keine Insel, ihn prägt der Zustand dieser Gesellschaft. Werfen Sie mal einen Blick in die Kommentarspalten der Internet-Nutzer. Dann wissen sie, wo wir leben.
Kehren wir also zurück zur Besinnlichkeit des Monats Mai, der ja nicht immer ein blutiger war. Vor genau dreißig Jahren feierten wir in dieser Republik ein Medienereignis, das bis heute seinesgleichen sucht. Und wie alle großen Skandale ging auch dieser mit Stuttgarter Unterstützung über die Bühne. Sie erinnern sich, die Älteren von Ihnen, die ein Gedächtnis haben: Günther Oettinger war nicht der erste Stuttgarter, der die Geschichte des Dritten Reiches neu schreiben wollte ... als er in feinstem Ditzinger Kalaschnikow-Schwäbisch den 2007 verstorbenen Marinerichter und Ministerpräsidenten Filbinger zum Widerstandskämpfer ernannte.
Bereits 1983 hatte der Stuttgarter Militariahändler Konrad Kujau dem Hamburger Magazin Stern die "Hitler-Tagebücher" verscherbelt. Die Anekdoten von Adolfs Blähungen und Fürzen schrieb Kujau selbst, und zwar auf Papier aus der DDR, das er so lange im Backofen röstete, bis es den "Stern"-Managern braun genug erschien. Ich erinnere an dieses Jubiläum, weil uns der Skandal vor Augen führt, was passiert, wenn renditegeile Manager den Journalismus übernehmen.
Es gibt bis heute Möglichkeiten, mit guten und wahren Geschichten Geld zu verdienen, so wie es möglich ist, mit einem guten Film oder einem guten Song Erfolg zu haben. Es gibt kein wirtschaftliches Gesetz, das vorschreibt, sich weitgehend mit folkloristischer Sülze zu begnügen wie etwa das SWR-Fernsehen.
Damit bin ich beim Handwerk. Den guten Journalismus gibt es, selbstverständlich. Gut geschriebene Texte auf der Basis von Recherche und Fantasie kosten allerdings Geld. Auch dies ist jetzt kein Spendenaufruf, nur eine Zustandsbeschreibung. Eine wichtigere Rolle als früher spielt heute der Lokaljournalismus. Mehr denn je haben die Menschen ein Bedürfnis, über ihren Lebensbereich, über die Geschichte ihrer Stadt, über ihr Umfeld informiert zu werden.
Und sie wünschen sich neben seriöser Information auch gute Unterhaltung. Deshalb sind Experimente und Projekte wie Kontext unverzichtbar.
Guter Journalismus kann Brücken bauen, Orte und Menschen zusammenbringen und damit einer Stadt mehr geben, als es die Typen aus den sogenannten Kommunikationsbüros der Politik und Wirtschaft tun. Bekanntlich sind diese PR-Leuchten nicht einmal in der Lage, den Aufzugführer zu informieren, bevor sie einen Fernsehturm schließen. Ich sage ihnen auch, warum: Sie verstehen Kommunikation nicht als Dialog zwischen A und B. Vielmehr sehen sie sich in einer Art von Größenwahn als Propagandachefs, als Spin-Doctors, die ideologische Strategien entwickeln, wie A am cleversten B bescheißt.
Um dem Niedergang des Journalismus entgegenzuwirken, braucht es Autoren, die Lust und Freude daran haben, den Leuten etwas zu erzählen, etwas Spannendes und Aufklärerisches, in einer guten Form, mit einem guten Sound. Dafür ist ein Biotop wie Kontext mit seinen Büros an der hässlichen Stuttgarter Stadtautobahn wie geschaffen. Sollen die Frauen und Männer dieser Firma ihr Biotop pflegen und verteidigen. Auch gegen jene Art Ökoapostel, die sich wie Frösche der Wetterlage anpassen. Grüne Zellen haben wir schon genug in der Stadt.
Damit beende ich meinen Job als Festredenhalter. Meine Damen und Herren, bleiben Sie couragiert, kämpferisch und vor allem wachsam. Denken Sie an den Hals von August Spies. Wir haben in Stuttgart zum Glück ein gutes Publikum mit politischem Bewusstsein, wir treffen diese Menschen in den Theatern und auf der Straße. Es ist kein Publikum, von dem man sagen würde: Wozu brauchen diese Leute ein Magazin wie Kontext ... so wie die aussehen, reicht ihnen die "Apotheken-Umschau".
Das war jetzt nicht persönlich gemeint.
Vielen Dank und einen schönen Abend im Theaterhaus!
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Brief einer Leserin der TAZ vom 4./5.Mai2013, zur Kontextbeilage
am 06.05.2013