Der Neonazi Ralf Wohlleben kann als so etwas wie der vierte Mann der NSU-Terrorgruppe gelten. Er kannte Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe aus Jena, war mit ihnen im rechtsradikalen Thüringer Heimatschutz aktiv, saß im Thüringer Landesvorstand der NPD. Wohlleben wurde nach dem Auffliegen der NSU-Gruppe Ende November 2011 verhaftet. Am 8. November 2012 erhob die Bundesanwaltschaft Anklage wegen Beihilfe zum Mord. Er soll Geld, Waffen und Munition für das Trio beschafft und von den Verbrechen gewusst haben. War Wohlleben auch V-Mann des Verfassungsschutzes? Diese brennende Frage beschäftigte den Untersuchungsausschuss des Bundestags in seiner Sitzung am 22. Oktober.
Der mögliche Kronzeuge dafür kommt ausgerechnet aus der Bundesanwaltschaft: Bundesanwalt Hans-Jürgen Förster, 64 Jahre alt und durch und durch ein Mann des staatlichen Sicherheitsapparats. Bereits in den 1980er-Jahren war er in Karlsruhe als Bundesanwalt tätig, von 1996 bis 1998 Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz in Brandenburg, von 2000 bis 2008 im Bundesinnenministerium (BMI) in der Abteilung Innere Sicherheit und seit Mai 2008 wieder beim Generalbundesanwalt, zuständig für Spionagestrafsachen und Proliferationsdelikte. Ein Mann, über jeden Verdacht erhaben.
Im Jahr 2002, berichtet Förster dem Ausschuss, wurde im BMI das NPD-Verbotsverfahren vorbereitet. Dabei tauchten "unendlich viele Probleme" mit V-Leuten des Verfassungsschutzes in der NPD auf. Bei einer Besprechung der Abteilung Innere Sicherheit (IS) lag ein Papier vor, in dem V-Männer in NPD-Vorständen aufgelistet waren. Einer hieß "Wohlleben". Nicht "Ralf Wohlleben", konkretisiert der Bundesanwalt, nur "Wohlleben". Ob männlich, weiblich, jung, alt, das sei nicht ersichtlich gewesen. Das Papier sei nicht aus dem Ministerium gekommen, sondern, wie er glaube, aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz.
Nachdem im November 2011 die Terrorgruppe aufflog und in der Folge auch Ralf Wohlleben festgenommen wurde, erinnerte sich der Ermittler an den Namen "Wohlleben". War der Festgenommene jener V-Mann aus der Liste von damals? Um die Frage zu klären, wandte sich Förster an seinen Vorgesetzten in der Behörde. Doch dort hielt sich das Aufklärungsinteresse in Grenzen. Der Abteilungsleiter Terrorismus, Rainer Griesbaum, schickte ihn zum Sachbearbeiter für das NSU-Verfahren, Bundesanwalt Herbert Diemer. Doch der unternahm nichts. Im Frühsommer 2012 habe er einen zweiten Versuch gemacht, so Förster, und Diemer erneut angesprochen, wieder folgenlos.
In Karlsruhe interessieren die Erkenntnisse nicht
Als dann im September 2012 in den Medien die Meldung auftauchte, gegen Zschäpe, Wohlleben und einige andere Festgenommene werde die Anklage vorbereitet, interessierte sich von den NSU-Ermittlern in Karlsruhe immer noch niemand für seine Erkenntnisse. Er machte einen dritten Anlauf und fragte den Kollegen Diemer, ob er in Vorbereitung der Anklage nicht noch vernommen werde. Diemer habe ihm nur knapp und mit negativem Unterton geantwortet: Dann schreib doch dein Wissen auf! Förster tat es und verfasste eine dienstliche Erklärung. Als er kurz darauf bei Diemer nachfragte, was nun wird, habe der erklärt, es sei ausgeschlossen, dass Ralf Wohlleben V-Mann gewesen ist. "Der Kollege war sehr angestrengt", schildert der Zeuge den Abgeordneten die Begegnung.
Nach Försters dienstlicher Erklärung vom September 2012 wurde das Bundesinnenministerium aktiv und fertigte einen "Bericht zur Aufklärung eines Hinweises auf eine mögliche V-Mann-Eigenschaft des Ralf Wohlleben", der Anfang Oktober 2012 dem Untersuchungsausschuss übermittelt wurde. Ergebnis: negativ. Die Erinnerung des Herrn Bundesanwalts sei unzutreffend.
Im Ausschussrund sitzen zwei Vertreter des BMI. Man könne ausschließen, dass Ralf Wohlleben eine Quelle war, erklären sie bestätigend. "Warum können Sie das ausschließen?", will Wolfgang Wieland wissen. Antwort: "Weil wir aktuell alle Länder abgefragt haben." Es sei doch inzwischen hinlänglich bekannt, wie viele Akten nicht mehr da sind, gibt der Obmann der Bündnisgrünen zurück. Eine solche Aussage, Wohlleben sei kein Informant gewesen, sei mit Fragezeichen zu versehen.
Das Papier ist nicht auffindbar
Dazu würde passen, dass das von Förster beschriebene Papier, unter anderem seien ihm die farbigen horizontalen Linien aufgefallen, bei den aktuellen Nachforschungen des BMI in den Verfassungsschutzämtern nicht gefunden wurde. Gefunden wurde stattdessen ein ähnliches Dokument, das acht V-Leute in NPD-Vorständen aufführt, darunter sechs mit Decknamen. Keiner soll Wohlleben gewesen sein.
Clemens Binninger, Obmann der CDU, wendet sich eindringlich an den Zeugen. "Herr Förster, Sie haben eine Information, die sehr brisant ist, wenn sie zutrifft, wenn Ihnen Ihre Erinnerung keinen Streich spielt." "Die Brisanz ist mir bewusst", antwortet der. Nämlich, dass ein Nachrichtendienst über einen V-Mann Kontakt zum Mordtrio gehabt haben könnte. Doch Hans-Jürgen Förster bleibt dabei. Er habe die Liste mit dem Namen "Wohlleben" gesehen, er habe noch den Kreis der Personen vor Augen, die dabei waren, sechs bis sieben, und führt sie dann namentlich auf.
Nach seiner Entlassung als Zeuge will Förster dem Reporter keine Fragen beantworten. Er bittet um Verständnis, er könne nicht mehr sagen als drinnen im Saal. Der Bundesanwalt weiß, welche Ungemütlichkeiten ihn im Dienst möglicherweise erwarten. Er hat sich gegen die amtlichen Erklärungen gestellt. Er ist zum Dissidenten geworden. Der nächste aus dem Kreis der Sicherheitsbehörden. Wie kürzlich der <link internal-link>frühere baden-württembergische Verfassungsschützer Günter S.
Ergebnislos in die falsche Richtung ermittelt
Auf der 41. Sitzung des NSU-Ausschusses wird auch das Nagelbomben-Attentat vom 9. Juni 2004 in Köln verhandelt, verantwortlich dafür ebenfalls die NSU-Gruppe. Bei dem Anschlag in der von türkischen Migranten besiedelten Keupstraße mit vielen kleinen Läden wurden über 20 Menschen zum Teil schwer verletzt. Die Ermittlungen verliefen ergebnislos. Nach heutigem Erkenntnisstand hätte man auf die Spur von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe kommen können. Weil ein fremdenfeindlicher, rechtsterroristischer Hintergrund vor allem von der Politik ausgeschlossen worden war, wurde in falsche Richtungen ermittelt. Fragen werfen aber auch Beobachtungen eines Zeugen auf, der zur Tatzeit zwei Polizeibeamte in Zivil wahrgenommen haben will.
Fritz Behrens war damals Innenminister von Nordrhein-Westfalen und soll nun dem Ausschuss Rede und Antwort stehen. In einer Eingangserklärung zeigt er sich zunächst "beschämt", dass die "Terrororganisation", wie er sagt, unentdeckt blieb. Das Ansehen "unseres Staates" habe Schaden genommen. Nun müsse das verloren gegangene Vertrauen in die Sicherheitsapparatur wieder hergestellt werden. Für die Fehleinschätzung trügen die politisch Verantwortlichen die Verantwortung – "auch ich". Dazu bekenne er sich, das bedaure er, das tue ihm leid, und dafür wolle er sich bei den Betroffenen entschuldigen.
Dann wird der Innenminister a. D. befragt. Der 9. Juni 2004 war der Mittwoch vor Fronleichnam. Der Minister war in Umzugsurlaub gegangen und nicht im Amtssitz. Bis zum Montag, den 14. Juni, blieb er in seinem neuen Haus und hielt lediglich telefonisch Kontakt zum Lagezentrum im Ministerium. Der Anschlag geschah um 16:25 Uhr. Um 17.04 Uhr bezeichnete das Landeskriminalamt in einem ersten Fernschreiben an das Lagezentrum den Anschlag als "terroristische Gewaltkriminalität". Um 17.36 Uhr gab das Lagezentrum des Landesinnenministeriums dem LKA die Weisung, den Begriff "terroristischer Anschlag" zu streichen. Daraufhin teilte das LKA um 17.45 Uhr in einem Fernschreiben an mehrere Behörden mit, die Erstmeldung sei zu korrigieren, es gebe bisher "keine Hinweise auf einen terroristischen Anschlag". Am Tag danach, dem 10. Juni, meldete das Lagezentrum gar, ein "terroristischer Hintergrund" könne "derzeit ausgeschlossen" werden. Am Samstag, 12. Juni 2004, zitierte der "Kölner Stadt-Anzeiger" Bundesinnenminister Otto Schily sowie NRW-Innenminister Behrens, die Tat habe weder einen "fremdenfeindlichen" noch einen "terroristischen Hintergrund".
Sebastian Edathy, SPD, Ausschussvorsitzender: "Mit wie vielen Anschlägen dieser Art hatten Sie es in Ihrer Amtszeit zu tun?"
Fritz Behrens, SPD, NRW-Innenminister a. D.: "Es war der Einzige dieser Art."
Edathy: "Haben Sie erwogen, Ihren Urlaub zu unterbrechen?"
Behrens: "Das habe ich ganz gewiss erwogen."
Stephan Stracke, CSU, stellvertretender Ausschussvorsitzender: "Warum haben Sie Ihren Urlaub nicht abgebrochen?"
Behrens: "Das war nicht nötig. Ich fühlte mich bestens informiert."
Armin Schuster, CDU: "Waren Sie am Tatort?"
Behrens: "Nein."
Schuster: "Auch danach nicht?"
Behrens: "Nein."
Schuster: "Wer war der ranghöchste Vertreter vor Ort?"
Behrens: "Weiß ich nicht."
Edathy: "Haben Sie mit Opfern gesprochen?"
Behrens: "Nein."
Edathy: "Und im Laufe des letzten Jahres?"
Behrens: "Auch nicht."
Edathy: "Am Abend des Tattages kamen Polizisten zu Verletzten, auch ins Krankenhaus, um DNA-Proben zu nehmen."
Behrens: "Das ist kein Ausweis für Sensibilität."
Edathy: "Wie viel Nägel hatte die Bombe?"
Behrens: "Kann ich nicht beantworten."
Edathy: "Tausend. Wie lang waren die Nägel?"
Behrens: "Weiß ich nicht."
Edathy: "Zehn Zentimeter. Der türkische Botschafter besuchte die Keupstraße und nannte den Anschlag eine terroristische Tat. Fragte er Sie, ob Sie mitkommen?"
Behrens: "Ich erinnere mich an keine solche Anfrage."
Eva Högl, SPD: "Hätten Sie sich als Innenminister nicht zur Keupstraße hinfahren sollen?"
Behrens: "Im Nachhinein ja, man hätte es besser tun sollen. Als Innenminister stellt man sich immer die Frage: Wann geht man vor Ort? Wann stellt sich die politische Notwendigkeit, Betroffenheit zu zeigen?"
Edathy: "'Politische Notwendigkeit, Betroffenheit zu zeigen': wie kann ich diesen Satz verstehen?"
Behrens: "Den Bewohnern der Keupstraße seine Betroffenheit zu zeigen wäre sicher nötig gewesen."
Clemens Binninger, CDU: "Wir Politiker gehen ja keiner Kamera und keinem Mikrofon aus dem Weg. Hier fällt auf, dass sowohl der Innenminister des Landes als auch der Ministerpräsident kein einziges Interview gibt. Von Peer Steinbrück damals kein einziger Satz zur Keupstraße, trotz vieler anderer Statements. So ein konzertiertes Schweigen muss man doch vorher abgestimmt haben. Oder liege ich da falsch?"
Behrens: "Da liegen Sie falsch."
Binninger: "Kein Wort an die Opfer. Das ist so atypisch für Politiker!"
Behrens: "Es gab keine Medienstrategie des Schweigens."
Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU: "War es politisch etwa nicht gewünscht, daß es einen rechtsextremen Hintergrund gab?"
Behrens: "Nein."
Binninger: "Ihr Ministerium hat die erste Lagemeldung des LKA korrigiert, es handle sich um einen terroristischen Anschlag. Warum?"
Behrens: "Das kam nicht von mir. Aber warum war das Terrorismus?"
Binninger: "Einen Anschlag wahllos auf Menschen zu verüben ist für mich Terrorismus."
Behrens: "Okay."
Binninger: "Den Begriff zu streichen war eine fatale Fehleinschätzung, weil es die Richtung der Ermittlungen prägte."
Behrens: "Diese Bewertung teile ich nicht."
Högl: "Wurde die Einschätzung im 'Kölner Stadt-Anzeiger' vom 12. Juni von Ihnen und Schily, es gebe keinen terroristischen Hintergrund, nicht von Ihnen getragen?"
Behrens: "Nein, die hat mich geärgert."
Högl: "Warum haben Sie das nicht korrigiert?"
Behrens: "Ich habe das mehrfach korrigiert. Es wird aber bis heute falsch dargestellt."
Binninger: "Sie haben es laufen lassen!"
Behrens: "Ich habe es nicht laufen lassen. Ich habe gesagt, es gibt keine Hinweise auf die Hintergründe der Tat."
Wolfgang Wieland, Bündnisgrüne: "'Keine Hinweise' ist etwas anderes wie 'ausgeschlossen'."
Behrens: "Das ist eine verschärfte Bewertung, richtig. Warum sie vorgenommen wurde, kann ich nicht erklären."
Petra Pau, Die Linke: "Der Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße, Ali Demir, war in seinem Laden, als der Anschlag geschah. Dann ging er nach draußen und bemerkte einen Zivilpolizisten mit Waffe. Er hat sich mit ihm über die Tat unterhalten. Dann sah er noch einen zweiten Zivilpolizisten, der den Tatort absperren wollte. Die Polizei traf erst nach 20 Minuten ein. Wussten Sie von verdeckten Ermittlern vor Ort?"
Behrens: "Nein."
Pau: "Herr Demir hat sich auch an die Bundesanwaltschaft gewandt. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Demir hat Drohbriefe erhalten. Hatten Sie Kenntnisse über solche Drohungen?"
Behrens: "Nein."
Högl: "Wie war Ihre Reaktion, als Sie im November 2011 erfuhren, dass der Kölner Anschlag vom NSU verübt wurde?"
Behrens: "Ich war total entsetzt."
Högl: "Denken Sie, dass Sie falsche Einschätzungen vorgenommen haben?"
Behrens: "Ja. Wenn man alle Erkenntnisse aufeinandergelegt hätte, hätte man auf diese Täter kommen können. Aber das ist Stand heute."
Stracke: "Schon durch Eingaben in die Sprengstoffdatei des Bundeskriminalamts wäre man auf das Trio gekommen, das wegen Sprengstoffdelikten gesucht wurde."
Behrens: "Mir ist nicht erinnerlich, dass mit mir über eine solche Datei des BKA gesprochen wurde."
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