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EM – Blut, Ball und Boden

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EM 2012: Ausnahmezustand auf den Straßen der Städte und im Fernsehen – wo der Fußball zusammengenäht wird und was ihn als mediales und ökonomisches Ereignis im Innersten zusammenhält, erkundet der Kontext-Auto Joachim Hoell.

Selbst in Schaufenstern flimmern die Fußballspiele – der EM-Übertragung ist kaum zu entkommen. Foto: Martin Storz

Europameisterschaft 2012: Ausnahmezustand auf den Straßen und im Fernsehen – wo der Fußball zusammengenäht wird und was ihn als mediales und ökonomisches Ereignis im Innersten zusammenhält, erkundet der Kontext-Autor Joachim Hoell.

Ein- und Ausfahrtsstraßen menschenleer, Rauchsäulen steigen in den dunstigen Abendhimmel, Raketen durchschlagen die gespenstische Stille. Im Schutz von Häusern und Cafés zusammengerottete Menschen, die bei einem Treffer in wildes, hysterisches Geschrei ausbrechen. Ein Schrei wie aus einer Kehle. Angst und Entsetzen in den Gesichtern. Heulen und Brüllen vor Schmerz. Der Feind hat sie böse erwischt. Der letzte Schuss war ein Treffer. Ein Volltreffer. Die gesamte Nation erschüttert. Millionen Menschen ins Herz getroffen. Die gegnerische Mannschaft hat ein Tor geschossen. Es ist Fußball-Europameisterschaft. Tooooooooooooor!

Schwierig, diesem Event zu entkommen. In Berlin-Kreuzberg, seit Jahrzehnten die Trutzburg der Unangepassten, in der die sogenannten bürgerlichen Parteien zusammen keine zehn Prozent bei Wahlen schaffen, dafür grüne Fundis die absolute Mehrheit erringen und mit dem Altlinken Hans-Christian Ströbele den einzigen Direktkandidaten ihrer Partei für den Deutschen Bundestag stellen, in diesem Kreuzberg, Versuchslabor für Künstler und Lebenskünstler aus der ganzen Welt, ist es während eines internationalen Fußballwettbewerbs wie einer WM oder EM unmöglich, am Abend ein ruhiges Plätzchen zu finden. Fernseher und Kinoleinwände allerorten übermitteln die süchtig machenden Bilder von schwitzenden Männern in kurzen Hosen, die um einen Ball rangeln.

Kein öffentlicher Ort, vom Kiosk übers Café bis zum Restaurant, kann ausscheren, wer Profit will, muss mitmachen und die Übertragung der Spiele anbieten. Selbst in dem raren Fall, dass die Betreiber eines chinesischen Restaurants in Unwissenheit der Bräuche und Sitten ihres Gastgeberlands keinen Fernseher zum Public Viewing aufgestellt haben, ist der nächste Hotspot nicht fern, sodass akustisch keine Fluchtmöglichkeit vor dem Geplauder des Moderators, den Schlachtgesängen des Publikums im Stadion und dem Gebrüll des Publikums vor dem Fernseher besteht.

Vor zehn Jahren wäre diese offen zur Schau gestellte Begeisterung für einen Massensport wie Fußball an einem "linken" Ort wie Kreuzberg peinlich gewesen, vor zwanzig Jahren hätte sie zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt, doch heute malen sich viele die schwarz-rot-goldene Kreide ins Gesicht und montieren, in Ermangelung eines eigenen Autos, Deutschland-Wimpel an ihre Citybikes. Man lacht dazu, es ist ironisch gemeint, wir sind doch postpostmodern. Links sein und lustig sein ist eins geworden, Widerstand gegen den Mainstream leisten nur noch unverbesserliche Spaßbremsen, die Kultur der Masse hat die letzten Bastionen des Widerstands überwunden. Dialektik der Aufklärung.

Gucken als Event der Selbstbespiegelung

Das Public Viewing im Pub stellt dabei das Minimum an Öffentlichkeit dar. Auf den Fanmeilen der Großstädte drängeln sich gleich Millionen, um im kollektiven Rausch versinken zu dürfen, stundenlang im Regen oder in der Sonne stehend, aus so weiter Ferne zum Screen, dass das Fußballspiel selbst zur Nebensache, die wabernde und brüllende Masse zur Hauptsache wird. Das Fernsehen berichtet live davon, dass so viele gemeinsam fernsehen, das Event Fußball wird zum Event Fußballgucken, eine krude Selbstbespiegelung, mit der die Macher die Spirale immer höher drehen. 

Public Viewing – eine krude Selbstbespiegelung. Foto: Martin StorzDas Medium Fernsehen nimmt als Übermittler, Organisator und Sponsor der Spiele eine zentrale Rolle ein. Katrin Müller-Obersalzberg, wie Spötter die Kommentatorin des ZDF nennen, nachdem sie bei der WM 2010 ausgerechnet die Treffer von Miroslav Klose als "inneren Reichsparteitag" für den polnischstämmigen Stürmer bezeichnete, steht zur EM 2012 auf einer Seebühne auf der deutsch-polnischen Insel Usedom, pompös in der Ostsee arrangiert und spektakulär illuminiert, als ob Leni Riefenstahl ein Remake von "Triumph des Willens" und "Olympia" gedreht hätte und auch gleich noch den Hauptdarsteller in Gestalt des blonden Hünen Oliver "Olli" Kahn casten durfte. Flankiert von der johlenden Meute, alle frisch ausgestattet mit UEFA-Fanartikeln der deutschen Mannschaft.

Hätte man den schwarz-rot-goldenen Fußballstrand in Polen oder der Ukraine aufgebaut, wären die Schlachtgesänge deutscher Fans womöglich im polnisch-ukrainischen Jubel untergegangen, aber man hätte nicht mehr von "innerem" Reichsparteitag sprechen müssen. Aber das war den Verantwortlichen dieses Mal dann doch noch zu mutig.

Der Dreiklang der Verblödung

Im Fernsehen dominieren drei Formate – Sport, Kochsendung und Talkshow. Mit diesem Dreiklang der Verblödung glaubt das öffentlich subventionierte deutsche Fernsehen seinem Sendeauftrag nachzukommen. Sind Kochsendungen und Talkshows wenigstens noch im eigentlichen Sinne des Wortes billig produzierte Sendeminuten, sprengt Sport, und da vor allem Formel 1 und Fußball, alle Dimensionen. Für das in Fußball investierte Geld könnten unzählige Autoren- und Dokumentarfilme produziert werden – Formate, die seit Jahren grob zusammengestrichen werden.

Aber der Geschmack der Masse geht über alles, der festgeschriebene Sendeauftrag nur noch Makulatur. Und nicht nur für das Fernsehen ist Fußball ein Bombengeschäft. Das Fußballgeschäft sei "der Inbegriff des entfesselten, wild gewordenen, globalisierten Finanzkapitalismus", meint der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, Mitglied des UN-Menschenrechtsbeirats. "Milliarden von Dollar sind impliziert, Sponsorengelder, Fernsehrechte und so weiter. Aber in Pakistan, dort, wo die Menschen die Fußbälle herstellen, bedeutet dieser globalisierte Finanzkapitalismus täglichen Terror."

An die 50 Millionen Bälle nähen pakistanische Frauen und Männer im Jahr zusammen – für rund 40 Cent pro Ball, der in Europa bis zu 100 Euro kostet.In dem Film "Der Ball ist rund" (2010) gehen die beiden Regisseure Christian Krönes und Florian Weigensamer zu dem Ort Sialkot im Nordosten Pakistans, das Zentrum weltweiter Produktion von Fußbällen. 50 000 Menschen nähen dort jährlich bis zu 50 Millionen Fußbälle, erwartungsgemäß verdienen die Näher und Näherinnen nur wenig, arbeiten dafür hart und haben keine soziale Absicherung, doch andere Erwerbsmöglichkeiten existieren praktisch nicht. "Es ist eine schwere Arbeit", erzählt eine junge Näherin. "Ich nähe jetzt schon seit vier Jahren, mit meiner Erfahrung fällt es mir leichter, aber es ist anstrengend. Man braucht sehr viel Kraft." Über drei Stunden dauert es, einen Ball zu nähen. Nach 750 Stichen sind die 32 Einzelteile der Hülle schließlich verbunden und bilden einen Ball. Drei bis vier Bälle kann eine Näherin am Tag fertigen und erhält pro Stück 40 Rupien, rund 40 Eurocent. In Europa wird der Ball zwischen 25 und 100 Euro kosten.

Unglaublicher Reichtum und fürchterliches Elend

Die Bevölkerung ist bitterarm, die Konzerne streichen den Gewinn ein. "Diese Konzerne haben eine Macht, wie sie kein König, kein Kaiser, kein Papst auf dieser Welt je hatte – sie beherrschen die Welt", resümiert Jean Ziegler im Film. "Die Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals bedeutet unglaublichen Reichtum, monopolisiert in den Händen von ganz wenigen, und fürchterliches Elend für die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten." Doch die Näher und Näherinnen in Sialkot sind glücklich, überhaupt eine Arbeit zu haben. Kaum jemand spielt dort Fußball, aber die meisten sind stolz, dass aus ihrem kleinen Ort die handgenähten Fußbälle stammen, mit denen überall in der Welt gespielt wird, von kleinen Kindern bis zu den Weltstars.

Darin liegt der Zynismus des kapitalistischen Systems, dass die um ihr karges Dasein ringenden Menschen in Pakistan froh über die Arbeit, froh über den Lohn und auch noch stolz auf die Tätigkeit sind, obwohl sie in der Wertschöpfungskette am untersten Ende stehen. Unfreiwillig bejahen sie das System, das sie ausbeutet und zerstört, weil die Alternative noch schrecklicher wäre. Dialektik der Aufklärung.

Der New Yorker Schriftsteller Paul Auster sieht im Fußballspiel den Krieg mit anderen Mitteln, eine moderne und friedlichere Variante des realen Krieges zwischen Nationen. Fußball als Statthalter für den realen Krieg. Auf die Psychologie der Masse bezogen, mag das richtig sein, auf die Verteilungskämpfe, die der globalisierte Fußball mit seinen Milliarden anheizt, ist Fußball ein Symbol für den Krieg zwischen Arm und Reich, zwischen Konzernen und Individuen geworden. Und dieser Krieg findet nicht zuletzt auch in den wohlhabenden Ländern der Erde statt.

Eine gigantische Geldspirale 

Rauschhafter Jubel auf den Fanmeilen. Foto: Martin StorzSponsoren, Investoren, Fernsehen, Merchandising – die Geldströme, die beim Fußball fließen, sind gewaltig. Eine Ablösesumme von 94 Millionen, die Real Madrid für einen einzigen Spieler wie Ronaldo gezahlt hat, mag einen Eindruck vermitteln, welche Gelder in diesem Geschäft bewegt werden. Der FC Chelsea ist dank der russischen Milliarden seines Besitzers Abramowitsch gerade Champions-League-Gewinner geworden – die Rechnung geht also auf. In dieser sich kontinuierlich nach oben schraubenden Geldspirale bleibt für die Kleinen bald nichts mehr vom Kuchen. Großkonzerne gestalten den Sport, die Menschen dürfen zahlen und immerhin auch noch zuschauen.

Vor der brutalen Logik des Finanzkapitalismus kapituliert alles und jeder. Ob bei der aktuellen negativen Wirtschaftsentwicklung in Spanien die zwei Topvereine (und damit auch Großkonzerne) Barcelona und Madrid bald zu den Verlierern gehören werden, bleibt abzuwarten, es sei denn, es findet sich ein ausländischer Investor aus Russland oder China. Dialektik der Aufklärung.

Wenn auch in Europa die Auswirkungen noch nicht so dramatisch und keineswegs mit den Bedingungen eines Landes wie Pakistan zu vergleichen sind, erleben auch die Gesellschaften der westlichen Welt seit einigen Jahren einen gehörigen Strukturwandel – und im Moment die größte Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Während die Massen auf den Fanmeilen, beim Public Viewing in ihrer Lieblingskneipe oder nach alter Großväter Sitte vor dem heimischen Fernseher ihre Teams und Stars bejubeln, bauen die politischen Führer, kaum beachtet von den Medien, im Windschatten des großen Sportevents, die europäische Finanzarchitektur auf eine Weise um, dass einem schwindlig vor Angst und Schrecken werden müsste. Die Folgen könnten gewaltig sein.

Der Krieg kann kommen.

 

Joachim Hoell lebt als Autor in Berlin. Biografien über Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann und Oskar Lafontaine. Zahlreiche Hörbuchbearbeitungen und Hörbuchregie. Demnächst erscheint sein Roman "Senken".


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1 Kommentar verfügbar

  • B.Oehler
    am 23.06.2012
    Antworten
    Vielen Dank für diesen wichtigen und guten Artikel in der Tradition von Gerhard Vinnai (»Die Tore auf dem Fußballfeld sind die Eigentore der Beherrschten!«, vinnai.de/fussball.html).
    Aktuell scheffelt Adidas Milliarden und verweigert eine Entschädigung indonesischer Arbeiterinnen…
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