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Explosiver Job

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Junge Soldaten üben Sprengen auf der Schwäbischen Alb. Jeder Vierte bricht die Ausbildung ab, weil ihm in der Praxisphase klar wird, wie gefährlich der Job ist. In acht Monaten schon könnte die Bundeswehr die Männer nach Afghanistan schicken.

Chirurgische Arbeit: junge Soldaten an einem Sprengsatz. Foto: Katrin LanghansJunge Soldaten üben Sprengen auf der Schwäbischen Alb. Jeder Vierte bricht die Ausbildung ab, weil ihm in der Praxisphase klar wird, wie gefährlich der Job ist. In acht Monaten schon könnte die Bundeswehr die Männer nach Afghanistan schicken.

Dort, wo vor fünf Minuten noch ein Mensch stand, liegen zwei Arme, zwei Beine und ein Körper zwanzig Meter weit über den Kies verstreut. Die Füße sind zerfetzt. Der Kopf hat keine Augen mehr. "Sie haben Kenny getötet", sagt einer. Kenny ist ein Pappzivilist.

Zwei junge Soldaten amüsieren sich über den Tod der Attrappe. Vier Männer stehen daneben und schweigen. In acht Monaten schon könnte die Bundeswehr sie alle nach Afghanistan abkommandieren. Denn mitten auf der Schwäbischen Alb, in dem Dorf Stetten am kalten Markt, bildet Norbert Dengert (alle Namen geändert) sie zu Kampfmittelbeseitigern aus.

"Wir arbeiten wie Chirurgen", sagt er. Dengert zeigt den Soldaten, wie sie Blindgänger mit möglichst wenig Sprengstoff entschärfen können: Um den Zünder auszuschalten, müssen sie ein passgenaues Loch ins Metall schneiden. Der Hauptmann hat schon viele Blindgänger entschärft – im Kosovo, in Bosnien und in Afghanistan.

Nach jedem Einsatz "ernster und reifer"

Er ist sich nicht sicher, ob er den Beruf ein zweites Mal ergreifen würde. Vor zwanzig Jahren habe er nicht geglaubt, dass er jemals in den Krieg ziehen müsse. Sein erster Einsatz war im Jahr 2001 im Kosovo. "Oh, Scheiße, wenn du jetzt was falsch machst, fliegt's dir um die Ohren", dachte er damals. Die Sprengung verlief nach Plan, aber aus jedem Einsatz kam er "reifer und ernster" zurück, sagt er heute.

Ins Kriegsgebiet will keiner der Soldaten, aber der Beruf des Kampfmittelbeseitigers eröffnet gute Aufstiegschancen, er sei das "Tor zur Offizierslaufbahn", erklärt Dengert. Trotzdem bricht jeder vierte Soldat die Ausbildung ab. Erst auf dem Sprengplatz wird vielen bewusst, wie gefährlich der Job ist.

Kawumm – am besten aus einiger Entfernung zu betrachten.Während die Soldaten auf dem Übungsgelände ideale Bedingungen vorfinden – eine freie Fläche, keine Zivilisten und genug Zeit –, klemmen die Blindgänger in Afghanistan schon mal verbeult zwischen Hauswänden. Einmal musste Hauptmann Dengert anrücken, weil eine afghanische Familie drei Blindgänger als Dachziegel in ihr Haus eingebaut hatte. "Die haben da drin gekocht, und das Ding hätte jeden Moment hochgehen können." Er erklärte der Familie die Gefahr, doch die schüttelten den Kopf und sagten: "Wir geben doch nicht unser Dach her." Am Ende der Diskussion stand ein Tausch: Ein paar ausgediente Metallbleche gegen die Blindgänger.

Improvisierte Sprengfallen können überall lauern

In einem anderen Fall musste Dengert mit der afghanischen Polizei ein Gebäude räumen. Auf einem Tisch lag ein Bücherstapel. Ein Polizist wollte das oberste Buch öffnen. "Halt", rief Dengert intuitiv. Und trug den Stapel schweißgebadet auf die Straße. Als er den obersten Buchdeckel aus sicherer Entfernung mit einer Schnur öffnete, explodierte der Sprengsatz. Hätte der Polizist den Buchdeckel aufgeschlagen, hätte es ihm seinen Kopf zerfetzt. Improvisierte Sprengstoffvorrichtungen, sogenannte IEDs, werden häufig von Taliban eingesetzt. "Die Grenzen der IEDs sind da, wo die Fantasie aufhört", sagt Dengert.

Nach jedem Einsatz steht ihm ein bezahlter, dreiwöchiger Kuraufenthalt zu. Er verzichtet. "Ich bin einfach nur froh, meine Frau wiederzusehen, da fahr ich doch nicht wieder weg." Lieber schlendert er mit ihr durch die Fußgängerzone, guckt in Schaufenster, kauft ein. Wahrscheinlich muss Dengert nicht mehr in den Krieg. Mit 54 Jahren steht er kurz vor seiner Rente. Bis dahin leitet er die Übungen in Stetten am kalten Markt.

Die sechs Soldaten und drei Ausbildungsleiter sprengen heute in Zivil, erst im Einsatz tragen sie den vierzig Kilo schweren Schutzanzug. Mark Kemper, 30 Jahre alt, ist zum ersten Mal auf dem Übungsgelände auf der Schwäbischen Alb. Er hockt vor einem bereits entschärften Leucht-Artilleriegeschoss, das aussieht wie ein vierzig Zentimeter langes Stahlrohr mit Kappe. Das Gefährliche an der Übung ist der Sprengsatz, den die Soldaten vorbereiten, um dort einen Schlitz in das Geschoss zu schneiden, wo normalerweise der Zünder sitzt.

Harmlos aussehende Substanzen mit gefährlicher Wucht

Kemper teilt einen faustgroßen rosa Würfel mit seinem Taschenmesser in fingerbreite Streifen. Die Masse sieht harmlos aus, wie Kaugummi. "Wenn man das Zeug anzündet, brennt es höchstens", sagt Kemper. Damit es zu einer Explosion kommt, muss ein heftiger Stromstoß durch den Sprengstoff gejagt werden. Dann erst hat die Sprengvorrichtung, die Kemper baut, die Wucht, ein Bein oder einen Arm wegzusprengen.

Er befestigt die Sprengstoffladung an dem Metallgeschoss. Auf dem Weg zum Bunker steigt Kemper über Schafsmist. Wenn die Bundeswehr hier nicht sprengt, dann überqueren Hirten den Sprengplatz. Eine rote Flagge warnt sie, dass heute eine Übung stattfindet.

Kemper schließt die Bunkertür. Die Soldaten reihen sich am Sichtschlitz auf. Er braucht ein paar Anläufe, um die Antenne in das Funkgerät zu stecken. "Kriegst du ihn wieder nicht rein?", fragt ein Soldat. Männerhumor. Alle lachen. "155 H, DM 140, 612 g", rattert Kemper mit belegter Stimme die Daten des Geschosses und der Sprengvorrichtung runter. Drei, zwei, eins, zünden! Kemper drückt den roten Knopf.

Kuchen backen mit Rauch und Donner

Ein roter Feuerball steigt in einer Rauchschwade auf. Der Boden im Bunker vibriert. Einen Wimpernschlag später erklingt ein dumpfes Donnern. Als sich der Rauch gelegt hat, geht ein Soldat raus und überprüft, ob der Sprengstoff vollständig explodiert ist. Danach erst begutachten die Soldaten das Ergebnis ihrer Sprengung. Der eingebrannte Schlitz auf dem Geschoss sieht aus, "als hätte jemand in den Schnee gepinkelt". Hauptmann Dengert räuspert sich: "Das war das 'Förmchen-Backen', jetzt kommt der Kuchen." Mit Kuchen meint er den Einsatz von mehr Sprengstoff. Kneten, basteln, ab in den Bunker. Zünden. Die Rauchschwaden werden höher. Der Knall lauter. Immer weniger Soldaten drängen sich am Sichtschlitz. Das Interesse lässt nach.

Die Hände des jungen Soldaten Kemper stecken in blauen Gummihandschuhen. Seine Finger spielen mit einem Stück Sprengstoff. Das Maschinenbaustudium hat er abgebrochen, um etwas Aufregendes zu erleben. "Einen Unfall könnte ich auch auf den 800 Kilometern haben, die ich jedes Wochenende nach Hause an die Ostsee fahre", sagt er und walzt den Sprengstoff mit einem Nudelholz glatt. Andere sagen, sie seien hier, "weil es so schön knallt" oder weil ein Kampfmittelbeseitiger bis zu 800 Euro extra im Monat verdient.

Während die Bundeswehr in ganz Deutschland Standorte schließt und etwa ein Drittel an Personal kürzt, bleiben im Ausbildungszentrum in Stetten am kalten Markt weiterhin rund 1200 Soldaten, davon sind 145 Sprengexperten. Gut ausgebildete Kampfmittelbeseitiger wie Dengert werden immer gesucht, denn jeder Krieg hinterlässt Spuren. Auf dem Übungsgelände zerfetzt ein Sprengsatz nur Pappfiguren. In Afghanistan aber sind es Menschen. Kemper hat seine Ausbildung bestanden, er wird Anfang 2013 nach Afghanistan gehen. Dengert bildet noch bis Juli 2012 aus, danach will er trotz Rentenanspruch ein weiteres halbes Jahr bei der Bundeswehr arbeiten.


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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 15 Stunden
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