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Am Pranger

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Die Nazis deportierten und demütigten ihre Mitbürger vor aller Augen. Eine Fotoausstellung in Ludwigsburg zeigt, wie grausam die öffentlichen Tribunale inszeniert wurden.

Am Pranger in aller Öffentlichkeit. Fotos: Ausstellungskatalog

Auf den ersten Blick scheint die Fotografie eine ganz normale Menschenansammlung zu zeigen, vielleicht eine Prozession. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme gibt einen Straßenzug in Ludwigsburg wieder. Die Autos und die Kleidung der Leute vermitteln den Eindruck, dass das Bild schon einige Jahrzehnte alt sein muss. Viele Männer tragen Hüte, die Frauen Kleider, Passanten eben. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass sich ungefähr in der Mitte des Bildes Platz auftut. Dort, wo zwei Menschen mit Schildern um den Hals durch die Straßen getrieben werden. Sie haben keine Haare mehr und halten den Kopf schamhaft gesenkt. Die Bilder zeigen, was ein Unrechtsstaat seinen Bürgern antun kann. Was nach einer Gemeinschaft ausschaut, verbirgt, dass hier gerade das Gegenteil passiert: Zwei Frauen werden aus der Bürgerschaft ausgeschlossen. Und niemand tut etwas dagegen. Die Bilder sprechen für sich.

Solche Szenen haben sich oft ereignet in Deutschland vor rund siebzig Jahren, im Deutschland der Nationalsozialisten. In einer Ausstellung, die jetzt im Staatsarchiv am Arsenalplatz in Ludwigsburg gezeigt wird, sind viele Fotoaufnahmen davon zu sehen. Die Ausstellung wurde von der Berliner Stiftung Topographie des Terrors gestaltet und von den Mitarbeitern der Ludwigsburger Filiale des Staatsarchivs um Aufnahmen aus dem eigenen Bestand und die dazugehörige Rekonstruktion des Geschehens ergänzt. Im Ausstellungskatalog bildet sich ab, wie häufig solche staatlich organisierte Schmähungen vor aller Augen erfolgten: Neben Ludwigsburg sind Fotos von solchen und ähnlichen Demütigungen in Baden-Baden, Heilbronn, Horb, Leutkirch, Meckenbeuren, Nagold, Reutlingen, Sigmaringen, Singen, Speyer und Ulm versammelt.

Schon bald nach der Machtübernahme zeigten die Nazis ihr hässliches Gesicht: In Heilbronn verprügelte der braune Mob im März 1933 einen SPD-Stadtrat auf dem Weg zur konstituierenden Gemeinderatssitzung mitten auf dem Marktplatz. Anschließend wurde der Geschlagene festgenommen, um seine Teilnahme an der Sitzung zu verhindern. In Karlsruhe werden Mitglieder der SPD verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht – und viele schauten zu. Die Männer mussten eine Schaufahrt durch die Stadt in einem offenen Lastwagen über sich ergehen lassen. Nicht nur beim Boykott jüdischer Geschäfte setzten die nationalsozialistischen Machthaber auf die Kraft der öffentlichen Ächtung, beispielsweise indem vor Geschäften mit jüdischen Inhabern Parteifunktionäre Banner aufspannten mit Aufschriften wie "Die Juden sind unser Unglück". Auch politische Gegner wurden so unter Druck gesetzt. Und viele schauten weg.

Für die Diskriminierung von Juden brauchte es keine direkte Anregung durch Parteiorganisationen. In Singen etwa gestalteten Mitarbeiter der Singener Aluminium-Walzwerke einen Paradewagen als Krokodil. Auf seinen Flanken stand "Der Judenfresser", Mitarbeiter des Unternehmens fuhren darauf mit in dunkler Kleidung und mit großen Pappnasen, um ihre jüdischen Mitbürger zu verspotten. Ein Jahr zuvor hatten schon Schüler einer örtlichen Schule Juden bei einem Umzug als "Palästinatiroler" ins Lächerliche gezogen.

Oft wurden Frauen an den Pranger gestellt.Anfang der vierziger Jahre  wurden besonders oft Frauen öffentlich an den Pranger gestellt, die mit Zwangs- und Fremdarbeitern befreundet waren oder befreundet sein sollten. Ihnen wurden vor versammeltem Publikum die Haare geschoren, meist mussten sie dabei Schilder um den Hals tragen, die sie beschimpften, beispielsweise als "Polendirne". Im Fall der zwei Ludwigsburger Frauen war auf den Schildern "Ich bin eine ehrlose Frau" zu lesen. Frauen wurden in einem öffentlichen Tribunal die Haare geschoren.Oft mussten Schulklassen an solchen Verunglimpfungen teilnehmen. Organisiert wurden die Demütigungen von NSDAP-Funktionären. Ranghohe Vertreter wie Kreisleiter der Partei leiteten die Aktionen. Die Fotos, die im Staatsarchiv gezeigt werden, wurden zu Zeiten des Nationalsozialismus meist in Zeitungen veröffentlicht, um die betroffenen Personen noch mehr an den Pranger zu stellen. Teilweise stammten die geschmähten Frauen aus kleinen Dörfern. Nicht auszumalen, wie es ihnen in ihrem Heimatort ergehen musste. Allerdings ist auch festzuhalten, dass in manchen Gemeinden ein solcher Umgang mit Mitbürgerinnen auch auf Missbilligung stieß.

Nach dem Krieg befanden sich einige der Bilder aus der Ausstellung nicht nur in Zeitungsarchiven, sondern auch in privaten Fotoalben. Sie sind also offenbar vervielfältigt worden, eventuell auch, um die Schmach für die betroffenen Frauen zu verstärken. Die Aufnahmen dienten den Anklägern in Entnazifizierungsverfahren als Beweismittel. Diese Verfahren führten aber keineswegs immer zu Verurteilungen der an den Demütigungen beteiligten Nationalsozialisten.

Die Ausstellung ist noch bis zum 17. September geöffnet, von Montag bis Donnerstag von 9 bis 16.30 Uhr, Freitag schließt sie bereits um 15.30 Uhr. Der Eintritt ist frei.


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1 Kommentar verfügbar

  • CWilcke
    am 05.08.2011
    Antworten
    Ausstellungsöffnungszeit "von Montag bis Donnerstag von 9 bis 16.30 Uhr, Freitag bis 15.30 Uhr" - Wer soll das besuchen, als interessierter Werktätiger?
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