Gut, auf Trachtenträger stieß er bei beiden Events. Doch bei seinem Volksfest-Besuch geriet der neue Regierungschef jetzt mitten hinein in einen wasenpolitischen Trendwechsel, vielleicht sogar in eine neue Weltanschauung: den Dirndl-Look. Oder muss man sagen, all die Dirndlträgerinnen, die jetzt das Wasenbild bestimmen, kamen zu Kretschmann? Immerhin kam ja auch das Amt des Ministerpräsidenten zu ihm, wie der grüne Politphilosoph zu sagen pflegt.
Aber solche Gedanken mögen für den traditionell eher rustikalen Zuschnitt des Volksfests zu dialektisch sein. In den zwei Stuttgarter Feierwochen ist eher der Dialekt Mode. Und nun eben auch das Dirndl. Für Kretschmann eigentlich kein Problem. Als Oberschwabe beherrscht der Minischterpräsident das schwäbische Idiom mindestens genau so perfekt wie sein Vorvorgänger und Geischtesfreund Erwin Teufel. Und da er sich, pazifistisch-politisch hyperkorrekt, dem Schützenverein in seiner Laizer Heimat traditionell verbunden fühlt, betrachtet er sicher auch die neue Stuttgarter Dirndl-Euphorie mit großer Toleranz. Zumal der neue Brauch, sich in ein Dirndl zu zwängen, dem Vernehmen nach noch keine zwingende Grundbedingung für eine gelungene schwäbische Integration darstellt. Bilkay Öney, die Integrationsministerin von der SPD, begleitete Kretschmann jedenfalls trachtenlos zum Volksfest.
Doch die politische Brisanz der D-Frage sollte von der baden-württembergischen Landesregierung nicht unterschätzt werden. Das Dirndl ist von jeher das Markenzeichen des Münchner Oktoberfests – und so etwas wie die identitätsstiftende Modereliquie aller Bayern. Da ist mit den Freistaatlern nicht zu spaßen. Trachtet Kretschmann, der jetzt für alle Mut-, Wut- und Wasenbürger dieses Landes zuständig ist, mit dieser gepushten Dirndl-Offensive gar nach Streit mit dem Nachbarn? Mit Sachsen-Anhalt hat es sich die Stuttgarter Regierung ja schon gründlich versaut, mit dem wasentauglichen Flachwitz ihrer neuen Werbekampagne: "In Sachsen-Anhalt steht man früher auf. Bei uns bleibt dafür niemand sitzen." Ein Tusch, die Krüge hoch, der Intellekt runter! Horst Seehofer und sein Kabinett sind noch rascher zu reizen. Wird das Dirndl zum neuen Konfliktstoff der Südschiene?
Man muss dazu wissen, dass die Konkurrenz zwischen dem Cannstatter Volksfest und der Münchner Wiesn mindestens so traditionell ist wie der verunglückte Fassanstich des Stuttgarter Oberbürgermeisters. Jahrelang wurde heftig um Zahlen gestritten (nein, im Bierdunst des Wasens verbietet sich an dieser Stelle jeder Bezug zu einem anderen Thema). Es ging um die Besucherzahlen. Immer lagen die Münchner vorn, und daher grübelte man in Stuttgart stets, welche anderen Vorzüge das Volksfest haben könnte. Einmal, in den 90er-Jahren, kam man auf den springenden Punkt und einen grandiosen Standortvorteil: Auf dem Wasen gebe es mehr Klohäuschen als auf der Wiesn. Was damals dem Stuttgarter Wasenreporter Klaus Eichmüller allerhöchsten Respekt abrang, den er in seinem Kommentar auch treffsicher formulierte: "Darauf, mit Verlaub, ist gesch...!"
Ja, das Cannstatter Volksfest ist eben wie das pralle Leben. Es geht um Gaudi und Geld. Jeder ist gut drauf und hängt seine Fahne in den Wind. Da darf die Politik nicht fehlen. Und daher tingeln mehr oder weniger wasentaugliche Mitglieder des Landeskabinetts alljährlich an einem Volksfest-Abend in den Kessel und geben sich festvolksnah. Jetzt auch Grün-Rot. Winfried Kretschmann, Bilkay Öney, Franz Untersteller und Alexander Bonde hatten den Juniorpartner Peter Friedrich mit dabei. Da kann schon mal harte Maß-Arbeit anstehen. Ob die Regierungskoalition ins Wanken kam, ist nicht überliefert. Dazu allerdings bräuchte sie den Wasen wohl nicht unbedingt.
Ein Gedanke lässt einen angesichts der Symbolträchtigkeit des Wasens nicht los. Man stelle sich vor, die Landesregierung steigt in die Gondeln des Riesenrads. Der Kreislauf beginnt. "Oben bleiben", schreien die Grünen-Granden. "Runter", halten die SPD-Spitzen dagegen. Nach 21 Runden wissen alle nicht mehr, wo oben und unten ist. Welche Eintracht! Womit wir fast wieder bei der D-Frage wären.
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