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Bundestagswahl

Links auf dem Land

Bundestagswahl: Links auf dem Land
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Vor allem junge Leute treten gerade in Die Linke ein. Bedanken kann sich die Partei dafür vor allem bei CDU-Chef Friedrich Merz. Doch was macht ein Neumitglied in der Partei – zumal auf dem Dorf?

Grabenstetten am Nordrand der Alb. 1.700 Einwohner, ein Bäcker, ein Laden ohne Personal, ein Gasthaus und eine Mühle, ein Steinbruch, ein paar Baufirmen und zwei Bushaltestellen, von denen aus man bis Bad Urach oder Erkenbrechtsweiler kommt. Zwischen den Ein- und Zweifamilienhäusern, oft mit glänzender Solaranlage auf dem Dach, ist viel Platz, auf dem unter blauen Planen sehr viel gespaltenes Holz für kalte Winter gelagert wird. Bei der Bundestagswahl 2021 wählten hier 20 Menschen Die Linke, im Gemeinderat sitzen keine Parteien, sondern Freie Wähler (sechs Sitze) und Unabhängige Wähler (vier Sitze). Hier wohnen seit ein paar Jahren Niko Führinger und seine Frau. Vor rund drei Wochen ist er in die Linke eingetreten. "Das war so 'ne abendliche Sofaaktion", sagt der 30-Jährige. Einen besonderen Anlass habe es gar nicht gegeben, nur so die allgemeine politische Situation und Debatte. "Ich habe ein sehr starkes Gerechtigkeitsempfinden." 

So oder ähnlich scheint es derzeit vielen zu gehen. Kürzlich meldete die Linke Baden-Württemberg, die 5.000-Mitgliedergrenze geknackt zu haben. Auch bundesweit läuft's. Schon nachdem Sahra Wagenknecht mit neun bis dato Linken-Bundestagsabgeordneten im Oktober 2023 die Partei verlassen hatte, gab es Eintritte. Klar, auch Austritte, doch im Saldo erhöhte sich die Mitgliederzahl. Auch das Ampel-Aus am 6. November brachte neue Leute. Dennoch kam die Partei nicht so richtig in Schwung, in Umfragen dümpelte sie weiterhin bei drei bis vier Prozent. Die Aktion Silberlocke wurde geboren, mit der die Alt-Promis Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch drei Direktmandate holen sollen, damit die Linke in den Bundestag kommt, selbst wenn sie an der Fünfprozenthürde scheitert.

Die Eintrittswelle hält an

Doch dann kam Friedrich Merz. Der CDU-Kanzlerkandidat brachte – warum auch immer – am Mittwoch, 29. Januar im Bundestag seinen Fünf-Punkte-Plan für eine schärfere Migrationspolitik ein und setzte dabei auf die Stimmen der AfD. Das klappte, weil auch die FDP dafür stimmte – und die Aufregung in der Republik war groß.

Als erste Reaktion versammelten sich am Abend danach auf dem Stuttgarter Schlossplatz rund 400 vor allem junge Leute von Jusos und Grüner Jugend, um gegen diesen Bruch der Brandmauer zu demonstrieren, ihre Wut über CDU und FDP loszuwerden. Dabei auch der linke Bundestagskandidat für den Wahlkreis Stuttgart, Luigi Pantisano. Er strahlt übers ganze Gesicht. "Bundesweit fast 1.000 Eintritte in einer Nacht", verkündet er. In der Republik hat die Partei nach eigenen Angaben derzeit etwa 65.400 Mitglieder, der baden-württembergische Landesverband, der es noch nie in den Landtag geschafft hat, zählt mittlerweile mehr als 5.000. Rekord. 

Und die Eintrittswelle hält an, auch nach dem darauffolgenden Freitag, an dem Merz scheiterte, als er mit der AfD das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz durchbringen wollte. Zwar stimmte neben der AfD das Bündnis Sarah Wagenknecht diesmal dafür, doch in der CDU- und in der FDP-Fraktion machten so viele Abgeordnete nicht mit, dass es nicht reichte. Und selbst wenn Merz stetig wiederholt, die Mehrheit der Bevölkerung wolle das, was er will, gibt es eben auch viele Menschen, die nun befürchten, Merz könnte nach der Wahl stärker mit den Rechtsextremen kooperieren.

Die Stimmung ist also aufgeheizt, es gibt bundesweite Demos mit hunderttausenden Protestierenden – und Menschen treten vermehrt in Parteien ein. Auch in Die Linke. Als deren Spitzenkandidat Jan van Aken am 3. Februar auf Wahlkampftour Station im Stuttgarter Gewerkschaftshaus machte, konnte er sich freuen. "Als ich vor zehn Jahren hier war, kamen acht Leute. Heute sind es 800." In Umfragen kommt die Partei mittlerweile auf fünf bis sechs Prozent. Das gibt zwar noch keine Sicherheit, aber Aufwind.

Früher auch rechte Bands gehört

Auch Niko Führinger ist motiviert, verteilt morgens vor Arbeitsbeginn Flugblätter an der S-Bahn. Nicht in Grabenstetten, sondern am Bahnhof in Plochingen, wo er bei einem Recyclingunternehmen den Bereich Umwelt, Sicherheit und Gesundheit leitet. Es sei ein Glück, dass er seine Überzeugung, dass man mehr für die Umwelt tun muss, auch bei der Arbeit umsetzen könne. Studiert hat er Energie- und Ressourcenmanagement an der Hochschule in Geislingen. Das war praktisch, weil er so bei seinen Eltern wohnen konnte, die ebenfalls in einem Dorf leben. "Ich bin also auf dem Land aufgewachsen, kenne die Situation." 

Was meint er damit? "Auf dem Dorf ist alles ziemlich festgelegt. Und du nimmst soziale Probleme fast nicht wahr." Es wirke immer alles recht harmonisch. Als Jugendlicher ging er in den einzigen örtlichen Jugendtreff: den Bauwagen am Dorfrand. "Da traf man sich, hat gesoffen und Musik gehört." Musik ist eine seiner Leidenschaften, Metal und Punk – deswegen auch die tätowierten Arme, das Piercing in Nase und Lippe und die gedehnten Ohrlöcher. "Wenn man in der Musikszene ist, kommt das irgendwann."

Selbst spielt er Schlagzeug. Politisch sei er nie gewesen. "Oh Gott, wenn ich daran denke, was wir damals an Musik gehört haben, da schäme ich mich heute fast." Da seien auch mal Böhse Onkelz dabei gewesen oder Freiwild – eher rechte Bands. Aber auch Punk und Oi-Musik hätten sie im Bauwagen gespielt, also mehr oder weniger linke Bands. "Das ist mir alles erst später bewusst geworden." Hätte er also auch nach rechts driften können? Niko zuckt mit den Schultern. "Weiß nicht. Vielleicht." Darüber geredet, geschweige denn reflektiert, wurde jedenfalls nicht und Jugendsozialarbeiter gab es keinen. Tendenziell bestehe schon die Gefahr, dass Jugendliche eher von rechts beeinflusst werden, meint Führinger. "Wenn du als Dörfler dann irgendwann zum ersten Mal in die nächste etwas größere Stadt kommst und hast vielleicht 'ne blöde Begegnung mit ein paar jungen Ausländern, dann wird schnell gegen Türken gewettert. Und da es auf dem Land eher konservativ zugeht, interessiert das meist niemanden." Das ist zumindest seine Erfahrung. 

Führingers Elternhaus sei CDU-konservativ, er selbst ein eher braves Kind gewesen. "Richtig rebelliert habe ich nicht", erzählt er am heimischen Esstisch. Hinter ihm stehen in einer Glasvitrine Lego-Bausets: das Raumschiff aus Krieg der Sterne und ähnlich Galaktisches. Der junge Mann grinst. "Ja, das mache ich gerne. Jetzt aber nicht mehr mit Lego – zu teuer." Kürzlich habe er die "Black Pearl" aus Fluch der Karibik gebaut. 5.500 Teile.

Soziales und Klima sind ihm wichtig

Am Dorfleben beteiligt Führinger sich nicht, ist in keinem Verein. Das wäre ihm zu eng. Warum aber lebt er dann hier, weit weg von allem, wo er und seine Frau zwei Autos benötigen, um zur Arbeit oder mal zu Freunden zu kommen? "Wegen der Miete." Für die 110 Quadratmeter über zwei Stockwerke zahlten sie 1.050 Euro warm. "In Nürtingen würde ich für das Geld nur die Hälfte an Platz bekommen. Wenn überhaupt." Dennoch überlegten er und seine Frau, ob sie sich nicht mehr in die Nähe von etwas Städtischerem ziehen sollten. Aber die Mieten seien ja in den vergangenen Jahren so absurd in die Höhe geschossen. Da müsse dringend was passieren.

"Und ich finde, auf dem Land müssten mehr Busse fahren", sagt Führinger. Als er vor zwei, drei Jahren angefangen habe, sich für Politik zu interessieren, sei das einer der Gründe gewesen, warum er bei den Grünen eingetreten ist. Verkehrswende, Klimawandel. Schon seit Jahren isst er vegan und vielleicht hat das Aufwachsen auf dem Land auch sein Gespür für Natur geschärft. Doch bei den Grünen ist er nach einem Jahr wieder ausgetreten. "Da gab es Entscheidungen für eine härtere Flüchtlingspolitik, die haben mir nicht gefallen." Und je mehr er sich mit Politik beschäftigt habe, desto mehr rückte die soziale Gerechtigkeit nach vorne. "Ich bin überzeugt, Klimagerechtigkeit geht nur mit sozialer Gerechtigkeit." Zudem sei er mit den Leuten bei den Grünen nicht so richtig warm geworden. Also trat er aus. Ein Kumpel, der in der Linken-Jugendorganisation Solid mitmacht, hat ihn dann überzeugt, es mal dort zu versuchen. 

Anfangs habe er noch gezögert, erzählt Führinger. "Weil man öfter gelesen hat, dass die Linke intern zerstritten ist. Aber zum einen hat sich das offenbar gelegt und zum anderen muss man da gelassen bleiben. Wenn mal jemand nicht gegendert hat – egal. Eigentlich haben wir doch gemeinsame Ziele." Ob er viel Engagement in Parteiarbeit stecken wird, kann er noch nicht sagen. Klar, im Wahlkampf hilft er jetzt mit. Sollte er danach weniger aktiv sein, unterstütze er die Arbeit der Aktiven wenigstens finanziell. "Nur die Stimme bei der Wahl abzugeben, reicht mir nicht." 

Jan van Aken hat beim Stuttgarter Wahlkampfauftritt seine Rechnung – vor zehn Jahren acht Leute, heute 800 – noch lachend weitergeführt: "In zehn Jahren sind's dann 80.000." Immerhin: "Nach der Veranstaltung haben wir 80 neue Mitglieder begrüßt", sagt die Landessprecherin. Ob noch jemand aus Grabenstetten dabei war, dürfe sie nicht sagen.

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3 Kommentare verfügbar

  • Reinhard Gunst
    am 13.02.2025
    Antworten
    Natürlich werden die Linken weiteren Zulauf bekommen und der wird sich ab 2027 rasant beschleunigen. Dann werden sich die kräftigen Preissteigerungen, verursacht durch das am 31.Januar verabschiedete ETS -2 Gesetz auf alle Lebensbereiche auswirken. Für untere Lohn- gruppen ist dann das Ende der…
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