Am 31. August 2015 hatte Angela Merkel einen Auftritt vor der Bundespressekonferenz in Berlin und sprach ihr berühmt gewordenes "Wir schaffen das". Zwei Wochen später, als der österreichische Kanzler Werner Faymann zu Gast in Berlin war, legte die Kanzlerin mit einem bemerkenswerten Satz nach: "Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Ein gutes Jahr später, als statt Stolz auf die Hilfsbereitschaft vieler Einheimischer längst die Viren der Xenophobie grassieren, bekräftigt sie ihre Zuversicht: Diese sei "Teil meiner politischen Arbeit, weil ich davon überzeugt bin, dass wir ein starkes Land sind, das aus dieser Phase gestärkt herauskommen wird". Der Satz mit dem Schaffen sei nie als Leerformel gemeint gewesen, sondern "anspornend und dezidiert anerkennend".
Die Willkommenskultur war kein schöner Traum
Nur zur Erinnerung: Die Willkommenskultur war kein schöner Traum, tausende Bilder aus besseren Tagen stehen im Netz, Dokumente des Engagements und der Mitmenschlichkeit. Und dafür, dass Artikel 18 der Europäischen Grundrechtecharta mit dem verbrieften Asylrecht nicht nur auf dem Papier steht, sondern zigfach lebensrettende Wirklichkeit geworden ist in den vergangenen Jahren. Noch 2017 präsentierte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie, wonach die positive Einstellung der Deutschen den "Stresstest" durchaus bestanden habe, etwa die Kölner Silvesternacht. Dass aber auch eine Mehrheit im Land ihre Zustimmung zur prinzipiellen Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen inzwischen ergänzt mit dem Hinweis, die Republik habe fürs erste genug getan.
Statt dem entgegenzutreten, im Wissen um Deutschlands Wirtschaftskraft und seine immensen Globalisierungsgewinne, ließen viel zu viele Leute und keineswegs nur PolitikerInnen eine schleichende Umdeutung von Begriffen und Zustandsbeschreibungen zu. Der Bundestagswahlkampf tat ein Übriges, denn belohnt wurden keineswegs die Besonnenen. "Deutschland ist ein offenes Land", darf Horst Seehofer (CSU) regelmäßig beklagen. Und sein nach Merkel zweitbester Feind, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, freut sich, dass der Begriff "Festung Europa" nicht mehr nur negativ besetzt ist: "Die Bürger wollen heute ein sicheres Europa, das ihre kulturelle Identität schützt." Deshalb müsse es endlich wieder in der Lage sein, sich besser gegen nachteilige Veränderungen und Wirren der Welt zu wappnen. So tickt auch Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, der das offizielle Motto für die eben begonnene EU-Ratspräsidentschaft des Landes über den grünen Klee lobt: "Ein Europa, das schützt." Jetzt sind die Zyniker am Drücker. Das Versprechen gilt natürlich nur bei richtigem Geburtsland.
Über das verfügt Manfred Rekowski nicht. Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland hat Migrationshintergrund, so wie gut 17 Millionen Menschen in Deutschland. Als Fünfjähriger kam er mit seinen Eltern aus Polen nach Gladbeck: "In Polen war ich der Deutsche und nicht übermäßig beliebt, auf dem Schulhof in Deutschland war ich der Pole, was auch nicht besser war." Vergangene Woche sorgte der Theologe für Schlagzeilen mit seiner Forderung, die Europäische Union möge gefälligst den ihr 2012 zuerkannten Friedensnobelpreis zurückgeben. Weil sie nicht in der Lage sei, "Ressentiments und nationale Egoismen zu überwinden sowie Mitmenschlichkeit und Liebe zu üben", schrieb der Präses in seinem Blog, weil eine EU, "die sich derart abschottet und Menschen in Todesgefahr die Hilfe verweigert, die Liebe verrät, für die das Christentum steht".
Tatsächlich hieß es seinerzeit, das Norwegische Nobelkomitee wolle den Blick auf das lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden, Versöhnung, Demokratie, Menschenrechte und schließlich "die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens". Gelobt wird die "'Bruderschaft zwischen den Nationen' die einer Form von 'Friedenskongress' entspreche, wie Alfred Nobel dies als Kriterium für den Friedenspreis 1895 in seinem Testament umschrieben hat".
Suche nach Halt und Orientierung ist anstrengend, aber möglich
Noch schmerzlicher treten Versäumnisse der europäischen Staaten bei der Lektüre der Dankesrede zutage, gehalten vom damaligen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy und Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Zwei Kernsätze daraus lauten: "Als Kontinent, der nach den Zerstörungen des Krieges zu einem der stärksten Wirtschaftsräume der Welt wurde, haben wir eine besondere Verantwortung für Millionen von Menschen in Not." Und: "Als Gemeinschaft von Ländern, die sich gegen Krieg und Totalitarismus aufgelehnt haben, werden wir stets auf der Seite derjenigen stehen, die nach Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenwürde streben." Die EU sei als politisches Projekt Ausdruck des Friedensbegriffs im Geiste Spinozas, "eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit".
5 Kommentare verfügbar
Kornelia .
am 11.07.2018'Sie' war nie was sie vorgab sein zu wollen!
Bzw. seit Kohls Wende (incl EU-basta Politik-Erzwingung) …