Carolin Eppeler leidet unter einer "Déformation professionelle". Kaum steht sie in einer Kneipe, suchen ihre Augen nach den Spielautomaten. Die 27-Jährige ist Sachbearbeiterin beim Stuttgarter Ordnungsamt, das für Glücksspiel aller Art zuständig ist. Ihre Klientel hat sie direkt vor der Tür. Casino Station 777 oder City Casino zum Beispiel. Und ums Eck finden sich schon die nächsten Daddelhallen. 130 solcher Vergnügungsstätten mit jeweils maximal zwölf Automaten locken allein in der Landeshauptstadt, ihre Umsätze können sich im sechsstelligen Eurobereich bewegen. Im Monat. Rechnet man die Groschengräber in den Kneipen hinzu, hängen 3000 Geräte in Stuttgart.
Das überall sichtbare, wild wuchernde Gewerbe hat, juristisch betrachtet, etwas mit Europa zu tun. Vor zwei Jahren war es der Europäische Gerichtshof, der das deutsche Totalverbot von privatem Wettbetrieb und Online-Spielen in die Tonne getreten hat. Ein Land, so die Begründung, das selbst massiv für Toto, Lotto, Oddset und Spielbanken trommle, könne privaten Anbietern schwerlich mit dem Argument kommen, sie förderten die Spielsucht. Seitdem schießen insbesondere die Wetthallen wie Pilze aus dem Boden. In Baden-Württemberg sind es allein 500, in denen vollautomatische Wettapparate, sogenannte Wettterminals, zum Zocken einladen. Wer will, kann hier auf die erste Gelbe Karte im Spiel der Bayern gegen Real Madrid setzen und kriegt sogar noch eine Quittung dafür. Legal sind sie alle nicht.
Die Grünen wollen den Schwarzmarkt austrocknen
Das soll sich mit einem großen Wurf ändern. Seit Juli 2012 dürfen die Bundesländer selbst mit einem Staatsvertrag zur Glücksspieländerung tätig werden. Vorne dran sehen sich die baden-württembergischen Grünen, die im nächsten Jahr zuschlagen wollen. Dann soll es nur noch 600 legale, lizenzierte Annahmestellen geben. Damit soll, laut Gesetzesbegründung, das Kunststück gelingen, "den Schwarzmarkt auszutrocknen, ohne dass eine Marktausweitung eintritt".
Doch zurück zur Daddelkiste. Wenn Frau Eppeler in die Kneipe geht, zählt sie zunächst auf drei. Mehr Spielautomaten sind nicht zugelassen. Doch die Tricks der Branche sind raffinierter als das schwammige Gesetz. "Pseudo-Gaststätten" gelten als der letzte Schrei im Hase-und-Igel-Wettlauf zwischen Ämtern und Aufstellern. Und das funktioniert so: Zu dekorativen Zwecken stehen Kaffeeautomat oder Kühlschrank herum, Getränke werden gratis über den Tresen geschoben, der Umsatz wird woanders gemacht. Die sogenannte Nachschau der Behörde fördert dann erstaunliche Verteilungen zu Tage: Automaten und Wettterminals bringen im Monat 40 000 Euro, Getränke nur 4000 Euro. Dann spricht der Experte von einem Umgehungstatbestand und merkt, dass er es mit einer Miniatur-Spielhalle und nicht mit einer Gaststätte zu tun hat.
Als Klassiker gelten in der Branche mittlerweile die Mehrfachkonzessionen. Aus einer nicht zulässigen Spielhalle mit 48 Automaten macht der Betreiber mit drei Sperrholztrennwänden vier legale Hallen mit jeweils zwölf Automaten. Inzwischen steht juristisch wasserdicht fest, dass derartige Betriebe zwar separate Eingänge und eine unterschiedliche Außenwerbung brauchen, aber eine einzige Aufsicht für die vier Hallen genügt. Dieser zentrale Kontrollposten erinnert dann ein wenig an Gefängnis-Innenwachtürme, von denen aus ein Vollzugsbeamter mehrere Gänge im Blick behält. Vom Trading-down-Effekt sprechen Stadtplaner, wenn derartige Zockerbuden das Mietniveau in den betroffenen Straßenzügen hinunterziehen.
Mit dieser geballten Spielhallen- und Automatenpräsenz soll es in den kommenden Jahren ein Ende haben. Das Bundeswirtschaftsministerium will in Gaststätten bald nur noch einen Automaten vor sich hin blinken sehen. Massive Einschnitte plant auch der baden-württembergische Landtag für die Innenstädte. 500 Meter soll der Mindestabstand zwischen den Vergnügungsstätten betragen. Auch um Schulen oder Jugendhäuser will das Land einen 500-Meter-Bannkreis ziehen.
Frau Eppeler und ihre in Paragrafengewittern gestählten Kollegen haben da so ihre Zweifel. Sie hätten gerne konkrete Vorgaben. Wie ist das mit den 500 Metern, die bei der Masse der Spielhallen ohnehin erst in fünf Jahren greifen? Gilt ein Radius, eine von Tür-zu-Tür-Entfernung, und welche Spielhalle muss dann tatsächlich schließen? Ist eine Grundschule ein K.o.-Kriterium oder gar ein Kindergarten, auch wenn man Kleinkinder bislang eher selten in Daddelhallen gesichtet hat?
Der Zocker soll die kalte Luft der Straße spüren
Ein halber Kilometer. Die kalte Luft der Straße soll der Zocker spüren, wenn er die eine Spielhalle verlässt und sich auf den Weg zur nächsten macht. Hinter diesem Abstandsgebot steckt auch der fromme Wunsch, dass der pathologische, sich um seine Ersparnisse bringende Mensch zur Besinnung kommen möge und von seinem selbstschädigenden Tun ablassen solle.
"Wer ein Problem mit seinem Spielverhalten hat, wird sich wohl kaum von der neuen Abstandsregelung abhalten lassen", räumt Josha Frey ein. Und dennoch hat sich der Landtagsabgeordnete der Grünen für die Ausweitung der spielfreien Zone stark gemacht. Er will die Zahl der Spielhallen "signifikant reduzieren". Denn je höher die Dichte, so Frey, desto größer das Suchtpotenzial.
Diese Aussagen decken sich mit den Erkenntnissen des Suchtforschers Tobias Hayer vom Bremer Institut für Psychologie und Kognitionsforschung. Hayer dozierte zuletzt leidenschaftlich auf einem Symposium der Universität Hohenheim. Vor der versammelten Glücksspielfachwelt, Automatenbranche inbegriffen. Letztlich gehe es der Automatenindustrie darum, die Hemmschwellen an allen Standorten zu senken, sagte Hayer. Die Geräte selbst seien immer raffinierter in ihrer Wirkung auf den krankhaften Spieler geworden. Richtig in Rage reden kann sich Hayer beispielsweise über die auf den Displays der Maschinen eingeblendeten "Beinahe-Gewinne". Paradoxer Effekt: im Gehirn des Spielers komme eine derartige Meldung an wie ein echter Gewinn und reize damit zum Weiterdaddeln. Hayer: "Die Befundlage ist erdrückend. Die höchste Suchtgefahr geht von den Automaten aus."
Mehr als 1000 Euro Verlust sollen technisch nicht möglich sein
Mit seinen Thesen hat sich Hayer in diesem Gewerbe zum absoluten Unsympathieträger entwickelt. "Realitätsverzerrung" werfen ihm Aufsteller und Automatenproduzenten vor. Mehr als 1000 Euro Verlust innerhalb weniger Stunden an einem einzigen Apparat seien physikalisch-technisch überhaupt nicht möglich, behaupten sie. Das ist beruhigend. Hayer kontert mit manipulierten Geräten, mit denen der Höchstverlust von 80 Euro pro Stunde ausgehebelt werde. Fakt ist: der gerichtlich bestätigte Manipulationsnachweis lässt auf sich warten.
Wer es harmloser mag, muss an die Glotze. Die niedrigste Suchtgefahr liegt laut Hayer bei der Fernsehlotterie. Vor dem Hohenheimer Hörsaal haben die Forscher eine beeindruckende Tabelle mit den Umsatzzahlen der einzelnen Spielarten aufgehängt. Zehn Milliarden Euro erzielt demnach die Branche Jahr für Jahr in Deutschland, auf die Automatensparte entfällt mit 4,1 Milliarden der Löwenanteil, dicht gefolgt vom staatlichen Toto-Lotto-Block mit 3,4 Milliarden. Bei diesen üppigen Überschüssen wird schnell klar, warum die Politik das Tippschein-Monopol mit Zähnen und Klauen verteidigt und sogar das Tippen übers Internet wieder ermöglicht hat. Der Online-Kanal "bedeutet eine erhebliche Senkung der Zugangsschwelle", kritisiert die Landesstelle für Suchtfragen. Die Spielbanken nehmen sich gegen den Toto-Lotto-Block mit rund 500 Millionen Euro Bruttoertrag wie kleine Fische aus. Und Pferdewetten mit 63 Millionen Umsatz wirken dagegen nur noch putzig.
Was bringt die 500-Meter-Abstandsregelung? Gar nix!
Und was bringt die 500-Meter-Regelung? Suchtforscher Hayers Fazit ist genauso eindeutig wie erschreckend und lässt sich so zusammenfassen: gar nix. Der Bremer Wissenschaftler hat aber noch viel schlimmere Botschaften auf Lager. Dem gesamten Glücksspieländerungsstaatsvertrag kündigt er einen erneuten Schiffbruch vor dem Europäischen Gerichtshof an. "Warum ist Online-Poker weiterhin verboten, Online-Wetten aber nicht? Warum bleibt das staatliche Lotto-Monopol bestehen? Und warum bleiben wesentlich gefährlichere Spielarten in privaten Händen?", geißelt Hayer die Inkonsequenz des Gesetzgebers.
Der Autor hat bislang nur einmal gewettet. Zehn Euro auf einen 2:0-Erfolg des FC Bayern gegen Valencia in der aktuellen Champions-League-Runde. Durch den späten Treffer der Spanier zum 2:1-Endergebnis wurde er um seinen 60-Euro-Gewinn gebracht.
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