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Reut-ling-en!

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Keiner spricht über den SSV Reutlingen, aber viele über die Fans des Vereins. Die Ultras der "Szene E" sind bei Fußballfans bundesweit bekannt. Ultras sind Hardcorefans, oft als gewalttätig verschrien, doch der SSV Reutlingen ist froh, dass er sie hat. Meistens.

Keiner spricht über den SSV Reutlingen, aber viele über die Fans des Vereins. Die Ultras der "Szene E" sind bei Fußballfans bundesweit bekannt. Ultras sind Hardcorefans, oft als gewalttätig verschrien, doch der SSV Reutlingen ist froh, dass er sie hat. Meistens.

Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff. Die letzten Klänge der Rolling Stones plärren aus den Boxen. "Paint it black", singt Mick Jagger. Dann ist Ruhe. Der schwarz gekleidete Haufen im Block E übernimmt das musikalische Zepter. Die erste Trommel erklingt, tok-tok-tok. Die zweite steigt ein. Aus 60 Kehlen der Schlachtruf: "Wir sind die letzten Reutlinger – tok-tok-tok – wir sind immer da!"

Ultras sind die einzig ernsthafte Menschenansammlung im Stadion. Foto: Martin StorzDas Stadion liegt da wie ein schöner Mantel, der sechs Nummern zu groß ist. Die Tribünen bieten Platz für 15 000 Zuschauer – 600 verlieren sich an diesem Samstag im weiten Rund. Die Ultras des schwäbischen Oberligisten SSV Reutlingen bilden die einzig ernsthafte Ansammlung von Menschen im Stadion an der Kreuzeiche. Ultras, das sind Hardcore-Fußballfans, Typen, die 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche für ihren Verein da sind. Sie besuchen jedes Spiel, immer, auch in schlechten oder sehr schlechten Zeiten. Alle großen Fußballvereine haben Ultras, den "harten Kern" der Fanschaft. Die kleinen Klubs eigentlich nicht. Außer dem SSV, der ist für seine Ultras bundesweit bekannt. Sie nennen sich Szene E – fast ausschließlich Männer zwischen 16 und 30; die Frauen lassen sich an einer Hand abzählen.

Die Spieler laufen ein. Fabian Maier dreht ihnen den Rücken zu. Er steht am Fuße von Block E. Maier, 29 Jahre alt, ist Kopf und Capo der Szene E. Auch von der Gegengerade aus erkennt man ihn noch deutlich: 1,90 groß, athletische Figur, braun gebrannt. Früher hat er Philosophie studiert, heute arbeitet er als Montageleiter. Er wirft einen Blick über seine Schulter, Anpfiff. Maier gibt den Trommlern ein Zeichen, holt tief Luft und setzt an: "Reut-ling-en!" Die Fans vor ihm steigen mit ein, immer schneller brüllen sie: "Reut-ling-en, Reut-ling-en".

Die Ultras haben den Verein im Griff

Der SSV Reutlingen war mal eine Adresse im deutschen Fußball. In den 1960ern war der Klub auf Augenhöhe mit Bayern München, kämpfte um den Aufstieg in die Bundesliga. Zur Jahrtausendwende spielte der Klub in Liga zwei. Nach Abstiegen, Misswirtschaft und der Insolvenz im vergangenen Jahr heißen die Gegner heute nicht mehr VfL Bochum und Hannover 96, sondern Normannia Gmünd und FV Illertissen. Für die Szene E ist das Fluch und Segen zugleich. "Ohne den Abstieg wären wir als Ultras heute nicht in der Position, in der wir sind", sagt Maier, denn andere Fans als die Ultras hat der SSV kaum noch. Das gibt den Ultras Macht, sie haben den Verein im Griff: Wer eine Karte für den Block E haben will, muss sich an die Szene E wenden, nicht an den Verein. Zu den Mitgliederversammlungen des SSV kommen 100, vielleicht 150 Leute. Die meisten kommen aus der Szene E. Ohne sie gibt es keine Satzungsänderung. Maier weiß um diese Macht. Selbst das aktuelle Präsidium konnte nur in Absprache mit den Ultras zusammengestellt werden. "Das Präsidium ist quasi mit unserem Segen eingesetzt worden", sagt Maier.

"Bundesligisten wie Dortmund und Bayern würden Ultras am liebsten ausschließen", sagt Maier. Weil sie laut sind, oft besoffen, manchmal unberechenbar. Die großen Stadien würden auch ohne sie voll. "Beim SSV ist das anders", sagt Maier. Mannschaft und Verein stehen hinter den Ultras, sind stolz auf ihre Fans. Mehr noch: sie brauchen sie sogar. Einige Spieler seien gerade wegen der Szene E aus anderen Vereinen zum SSV gewechselt. "Sie wollten vor richtigen Fans spielen."

Auf der anderen Seite, gegenüber dem Block E, steht diese Mischung aus Rentnern und Kindern, die man häufig bei unterklassigen Spielen sieht. Keine Jugendlichen – als wäre eine ganze Generation nicht eingeladen worden. Das Spiel des SSV ist schwach. "Pisskopf", sagt einer der Alten, und es ist nicht ganz klar, wen er meint – den Schiedsrichter, den gegnerischen Stürmer oder den eigenen Torwart. Im Block E singen die Ultras: "Scheiß egal, wo du auch spielst / ob du gewinnst oder verlierst." Zum Beginn der zweiten Halbzeit geht Reutlingen in Führung.

60 Ultras in Reutlingen – eine beachtliche Menge

"Wir wollen nicht ewig in der Oberliga festhängen", sagt Fabian Maier kurz vor Spielende. Er kann sich noch gut an die Zweitliga-Zeiten erinnern. An Auswärtsfahrten nach Mönchengladbach, auf den alten Bökelberg, nach Köln ins Müngersdorfer Stadion. Das war was, würdig für die Fußballer, würdig für die Ultras, damals. In der Oberliga jedoch bietet den Hardcore-Fans niemand Paroli. Gmünd und Iltertissen haben keine Ultras. Das Schlimmste: die Szene E will sich präsentieren – das gehört zum Selbstverständnis. Aber in der fünften Liga gibt es keine Bühne für sie.

Sie wollen genauso kreativ sein wie die da oben. Foto: Martin StorzBundesligaklubs wie Hamburg oder Frankfurt haben bis zu 600 organisierte Ultras, in Reutlingen sind es etwa 60 – mit Blick auf die Mitgliederzahl ein beachtlicher Wert. Sie malen Plakate, erfinden Fangesänge. "Wir wollen genauso kreativ sein wie die da oben." Wenn man sich schon sportlich nicht messen kann, dann zumindest auf der Tribüne.

Es bleibt beim 1:0. Nach dem Schlusspfiff leert sich das Stadion schnell. Nur die Ultras bleiben noch. Erst eine halbe Stunde nachdem die übrigen Zuschauer nach Hause gegangen sind, spuckt das Stadion die letzten von ihnen samt Fahnen und Plakaten aus. Auch Fabian Maier geht, ins Clubhaus – zum Feiern.

Das Hauptquartier der Szene E liegt in der Reutlinger Südstadt. Der Raum erinnert an ein Jugendzentrum: helle Holzmöbel, PVC-Boden. Fabian Maier lässt sich auf ein durchgesessenes Sofa fallen. Über ihm prangt ein Graffiti der Reutlinger Skyline mit dem Stadion im Mittelpunkt.

Die Szene E ist bundesweit bekannt

Maier schaut nicht viel Fußball abseits vom SSV. Wie etwa der rechte Verteidiger von Borussia Dortmund heißt, weiß er nicht. Aber in der deutschen Ultra-Szene kennt er sich genau aus – er kennt ihre Protagonisten, Gruppierungen, Philosophien. "Wenn der SSV 5:0 gegen Nöttingen gewinnt, kriegt das in Dortmund keine Sau mit. Aber wenn wir Reutlinger Ultras das feiern, dann schon." Die Spielberichte vom SSV stehen in der Lokalzeitung. Über die Choreografien der Szene E schreibt sogar das bundesweite Ultra-Magazin "Erlebniswelt Fußball". "Wir sind in der Szene deutschlandweit bekannt", sagt Fabian Maier.

"Die Lokalpresse schreibt in der Regel zwei Dinge über uns", sagt er. "Gewalttätig und rechtsradikal." Der Grund: einer der Gründer der Szene E war der Chef der "Heimattreuen Vereinigung Deutschlands" – einer Gruppierung, die Adolf Hitler verehrte und 1993 verboten wurde. Das ist eine Weile her. Heute sagt Maier, sie seien ein unpolitischer Haufen: "Bei uns gibt es keine Nazis." Zwischen der Szene E und dem ehemaligen Chef der "Heimattreuen Vereinigung Deutschlands" herrsche zudem seit Jahren Funkstille. Maier schnaubt. "Sie schreiben immer nur, wir seien Rechte. Nie schreibt mal einer, wie toll wir unseren Verein unterstützen."

Ende vergangenen Jahres griffen Anhänger des SSV eine Gruppe Dortmunder Fans am Stuttgarter Bahnhof an. Zwei SSV-Ultras wurden verhaftet. "Ich will keinen sehen, der wegrennt", sagt Maier. Seine Jungs hätten sich nur verteidigt. Die Dortmunder hätten angefangen. "Wir kommen als geschlossener Block. Uns pöbelt besser niemand an. Wenn es knallt, knallt es halt."

Sind Ultras von der Szene E mit der Polizei aneinandergeraten, meldet sich meist der Verein zu Wort: "Wir sehen die Ultras positiv, auch wenn wir natürlich nicht alles toll finden", sagt der Vorstandsvorsitzende Eberhard Spohn.

"Was soll er auch sonst sagen?" Fabian Maier lacht.


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3 Kommentare verfügbar

  • F. Maier Philosoph
    am 27.10.2022
    Antworten
    Clowns- ohne den VfB Stuttgart kämen sie wohl nur mit 15 Menschen auswärts. Aber 100 dann schreiben. Kraaaaaass!!!1!!eins!1
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